Zu Hause zwischen den Welten

Lorenzo Ravagli

Eine deutsche Biografie – ausgespannt zwischen Salzburg und Bogotá, Österreich und Kolumbien, großem Reichtum und extremer Armut –, der die Salzburger Waldorflehrerin und Autorin Christa Stierl ihre Stimme leiht.

Eine Kindheit, geprägt von einer lieblosen Mutter, von zahlreichen Leiheltern, von Kriegserfahrungen im zerbombten Berlin, der Flucht vor der roten Armee, dem frühen Tod des Vaters – entwurzelt schon und traumatisiert, bevor das Leben noch richtig begonnen hat. Familiäre Beziehungen ermöglichen dem Neunzehnjährigen die Auswanderung nach Kolumbien, wo sein Großvater mütterlicherseits eine ausgedehnte Hazienda führt, die 23.000 Hektar Land umfasst. Der Sinn steht aber dem jungen Abenteurer, der während des Krieges nur sporadisch die Schule besucht hat und eine Ausbildung zum Kaufmann nicht abschließen konnte, nicht danach, die Karriere eines Großgrundbesitzers einzuschlagen, und so versucht er sich im Handel. Es dauert einige Zeit, bis er Fuß zu fassen vermag und mit internationalen Vermittlungsgeschäften zu Wohlstand gelangt.

Der Selbstmord seiner Mutter, die ebenfalls nach Kolumbien ausgewandert ist, scheint im erfolgreichen, aber – wie er selbst erzählt –, ziemlich oberflächlichen Kaufmann eine schlummernde Anlage wachgerufen zu haben und er beginnt, sich 1964 für soziale Projekte zu engagieren. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, die Liebe, die sie ihm nicht zu geben vermochte, habe er nun in sich selbst geweckt, und sie richtet sich als gestaltende Kraft auf Kinder und Jugendliche, die so entwurzelt und verloren waren, wie er selbst einst.

Er beteiligt sich an der Gründung der Deutsch-Kolumbianischen Gesellschaft für Sozialarbeit, die eine Schule für die ärmsten Kinder Bogotas ins Leben ruft, die noch heute existiert. Er betätigt sich in der sozialen Arbeit seiner evangelischen Kirchengemeinde und baut Ende der 1960er Jahre das erste SOS-Kinderdorf in Bogotá mit auf. Die Mitarbeit in der Organisation PROYECTOS, der ersten Evaluationseinrichtung für soziale Arbeit in Kolumbien bringt ihn sowohl in die Nähe der Jesuiten, die in Kolumbien im Bildungs- und Sozialwesen eine große Rolle spielen, als auch der revolutionären Linken. Die letztere Verbindung führt in seinem 42. Lebensjahr, beim Eintritt in die Marsepoche des Lebens, zu seiner Verhaftung durch das Militär und einer mehrere Wochen dauernden Untersuchungshaft.

Obwohl die gegen ihn erhobenen Verdächtigungen sich als gegenstandlos erweisen und er entlassen wird, entscheidet er sich, mit seiner Familie das vom Bürgerkrieg gebeutelte Land zu verlassen, das immer mehr in der Anarchie zu versinken scheint. Da die Mutter seiner zweiten Frau in Salzburg lebt, führt ihn wiederum die Verwandtschaft an den Schauplatz seiner zweiten Lebenshälfte. Die Kinder aus dieser Ehe stellen den Kontakt zur Waldorfpädagogik und zur Anthroposophie her. Auch in Österreich lässt das soziale Engagement des Unternehmers nicht nach. Hier spielt er als Förderer und Mitgestalter von Kindergarten und Schule eine bedeutende Rolle. Trotzdem er Kolumbien verlassen hat, brechen seine Beziehungen zu diesem »wunderbaren Land« nicht ab.

Nach der Übersiedelung pendelt er vielmehr bis heute zwischen beiden Schauplätzen seiner Tätigkeit und ruft in Bogotá weitere soziale Projekte in Leben. Nach der Katastrophe des Ausbruchs des Nevado del Ruiz, dem 23.000 Menschen zum Opfer fallen, baut er in der Nähe des Unglücksortes ein SOS-Kinderdorf auf, schafft in den 1980er Jahren einen Modellbetrieb für ökologischen Landbau (Gabeno) und gründet schließlich 1997 sein »Herzensprojekt«, das Centro Educativo y Social Waldorf (CES Waldorf) für Kinder und Familien in einem der gefährlichsten Slumgebiete Bogotás. »In diesem Slumgebiet wird täglich ein Mensch ermordet«, erzählt von Loebell. »Ein Dialog wie folgender ist keine Seltenheit. Frau A erzählt: ›Herr X. ist gestorben.‹ B antwortet daraufhin: ›Und wer hat ihn umgebracht?‹ Was wie ein makabrer Scherz klingt, ist in diesem Milieu traurige Realität.«

Kurz vor seinem 80. Lebensjahr erscheint diese Lebenserzählung eines großen Sozialunternehmers, der als »Protestant« über die Anthroposophie sagt: »Beeindruckt haben mich neben den Gedanken Rudolf Steiners zum Wirtschaftsleben und zur Pädagogik seine Erkenntnisse zu Christus und seine Bemühung um den Christusimpuls in der Welt sowie seine Gedanken zu Reinkarnation und Karma. Diese sind für mich kein Widerspruch, sondern als erlebte Tatsache, eine wesentliche Ergänzung zum protestantischen Glaubensimpuls. Ich sollte also nicht fragen, wer ein Anthroposoph ist, weil es die ja gar nicht gibt, sondern nur Menschen auf dem Weg zur Anthroposophie«.

David Steindl-Rast schreibt in seinem Vorwort: »Diese Autobiografie ist ein Rühmen, ein Lobpreis des Lebens, allem Tod zum Trotz. Dadurch wird sie zur Herausforderung und Lebensschule für uns alle«. Der ehemalige Salesianerprovinzial aus Kolumbien stimmt am Ende des Buches ein: »Sein Leben verwandelte sich in einen permanenten Dienst aus dem Geist eines Befreiers und Förderers der Würde«. Und der Provinzial des Jesuitenordens ergänzt, Paulus zitierend: »Du warst groß dabei, Gefechte für die menschliche Würde zu führen, du hast die Werke vollendet, die du zugunsten der Kinder unternommen hast, und du hast bis in deine reifen Jahre den Glauben und die Freude erhalten ...«.

Helmut von Loebell. Der Stehaufmann. Berlin, Bogotá, Salzburg – im Unterwegs zu Hause. Aufgezeichnet von Christa Stierl. Edition Kunstschrift, Salzburg 2016, 203 S.

Hinweis: Im Kulturverlag Polzer ist 2014 das Buch »Zukunft für Zukunftslose« von Helmut von Loebell und Peter Daniell Porsche erschienen, das die Geschichte des CES Waldorf in Bogotá erzählt. Siehe: Hoffnung für die Ärmsten