Zukunft erforschen

Cornelius Lohmann

Wie in guten Seminarsitzungen oder in mitreißenden Vorträgen breitet Bartoniczek das Tableau fast aller Themen aus, die mit Geschichte und Geschichtsunterricht zu tun haben, ohne an Exaktheit in der Gedankenführung nachzulassen. Die enorme Lebendigkeit erreicht er durch viele Beispiele aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte, die er zur Verdeutlichung seiner anspruchsvollen Untersuchungen zum Begriff »Geschichte« und seiner Wirkungen besonders auf Jugendliche zusammenträgt.

Im ersten der drei Teile geht es unter der Überschrift »Der Lehrer« um alles, was mit der seelischen und geistigen Forschungstätigkeit des Geschichtslehrers an seinem eigenen Geschichtsbild zu tun hat – meiner Ansicht nach das wichtigste Kapitel, weil für den Autor diese Aspekte entscheidender als alle Methodik und Didaktik sind. Hier geht es um Selbsterziehung, die innere Haltung zum Geschichtsschüler, um die Schulung der eigenen »imaginativen Geschichtserkenntnis«, um seine »objektivierbare Subjektivität«, um historische Fantasie als Willens- und nicht nur Vorstellungstätigkeit und um das »Traum-Bewusstsein« des Historikers. Von da aus reicht das Spektrum über den Bildbegriff zum Zeit- und Symptombegriff bei Rudolf Steiner – unter anderem im Gegensatz zum klassischen Ursache-Wirkung-Denken unter Historikern und vielfach auch unter uns Geschichtslehrern. Hinter allem steht die seelisch-geistige Korrespondenz mit dem Schüler, wenn dieser Unterricht hilfreich und gesundend wirken soll.

Der zweite Teil – »Der Schüler« – handelt von der menschenkundlichen bzw. entwicklungspsychologischen Situation der (männlichen und weiblichen) Jugendlichen, ihrem freigewordenen Astralleib und deren Verhältnis zu den Idealen in der Geschichte, zu Traum/Schlafen/Wachen, zu Erinnerung und Vergessen, also den entscheidenden rhythmischen Grundlagen des Lernens – nicht nur im Zusammenhang mit der Waldorfpädagogik.

Der dritte Teil – »Der Unterricht« – enthält Ausführungen zur schulischen Realität, zur täglichen und nächtlichen Unterrichts-»Architektur«, zum richtigen geschichtlichen »Erzählen« und zum Problem der sog. Anschaulichkeit (sehr interessant, fast provokant sind die Kapitel über Foto- und Filmeinsatz im Unterricht). Er nennt auch mehrfach Kriterien zu der sonst so mühsamen Auswahl aus der schier unermesslichen Fülle der geschichtlichen Ereignisse, an denen ein Geschichtslehrer ja so oft zu verzweifeln droht.

Die angenehm vortragende Darstellungs- und Erzählweise des Autors verknüpft immer wieder alle Teile dieses umfangreichen Werkes miteinander (ideal als Ferienlektüre zur grundlegenden Vorbereitung kommender Epochen), Wiederholungen erleichtern das Verstehen, rufen vorher schon Begründetes wieder in Erinnerung und zeigen ganz deutlich, wie Lehrer, Schüler und ihr Begegnungsfeld Geschichte auf das engste miteinander verbunden sind. Dabei sind die vielen wunderbar dargebotenen historischen Beispiele die lebendige Basis für alle notwendigen »theoretischen« Erläuterungen. Hier ist ein Kenner von Geschichte am Werk, der als aktiver Lehrer spielend mit den historischen Vorgängen, Bildern, Hintergründen, eben mit der Symptomatik geschichtlicher Ereignisse umgeht und auch mit dem sogenannten wissenschaftlichen und philosophiegeschichtlichen Stand und Standard sehr vertraut ist.

So sehr die vielen historischen Beispiele in ihrer ganzen Lebendigkeit streng an dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand seines Kapitels orientiert sind, so sehr stellen sie auch in sich wunderbare Miniaturen dar. Von daher sei hier gleich eine gewisse Empfehlung für künftige Auflagen angemerkt: Es wäre günstig, wenn man neben dem dringend notwendigen Gesamtregister auch ein Register dieser diversen historischen Beispiele hätte, um sie für seinen Unterricht nutzen zu können: Hervorragend ist z.B. alles, was Bartoniczek zum Thema Sesshaftwerdung über die verschiedenen Abschnitte verteilt darstellt, zur Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern, zur Industrialisierung im 19. Jhdt., zu 1953/Ostberlin, zur Studentenrevolte der 1960er Jahre und vieles mehr.

So fühlt man sich sehr an Christoph Lindenbergs Impulse und Darstellungsform früherer Jahrzehnte erinnert, insbesondere in Bartoniczeks abschließendem Durchgang durch die Hauptmotive der vier Oberstufenjahre. Aber man muss auch sagen, dass er an Gründlichkeit, kritischem Hinterfragen, begrifflicher Klärung konventionell-wissenschaftlicher und anthroposophischer Begriffe weit über Lindenberg hinausgeht und manches auch anders sieht als dieser. Dieses Buch kann getrost als erstes neues Grundlagenbuch nach Lindenbergs Schriften für die jetzt nachrückenden Geschichtslehrer-Generationen verstanden werden. Vielleicht finden sich auf diese Weise auch endlich wieder neue, junge, hochmotivierte nachfolgende Jahrgänge, die zeigen, dass Geschichtsunterricht viel mehr ist als trockenes Analysieren von Fakten und Konstruieren von historischen Systemen, die man (vermeintlich) für irgendwelche Abschlussprüfungen braucht!

Man kann den ganzen Zauber dieses Buches nur sehr schwach in einer Rezension wiedergeben. Dennoch seien hier einige Aspekte besonders hervorgehoben, die seine großen Qualitäten verdeutlichen können:

Bartoniczek lenkt zunächst den Blick auf ein grundlegendes Problem: Geschichte als Vergangenheit zu verstehen, für die es »sichere Beweise und Belege« gebe, obwohl ihre Wiedergabe durch den Menschen doch immer subjektiv sei und nie einen Anspruch auf »Wahrheit« oder »Wirklichkeit« haben könne. Daraus leitet er zunächst sein Bekenntnis zur »Subjektivität« ab, d.h. zur Wahrnehmung des Geschichtlichen durch die Persönlichkeit, durch das Ich. Hiervon geht Bartoniczeks intensive entwicklungspsychologische Arbeit (»Menschenkunde«) aus, nämlich an dem, was eigentlich in der Seele der Jugendlichen – die Darstellung des Lehrers innerlich mitvollziehend – vorgehe, bis hin zu der Frage, woher diese Seele eigentlich stamme, wie tief ihre »Erfahrungen« seien und woher das mögliche Geschichtsinteresse rühren mag, an das der Lehrer »an-schließe«.

Von größter Bedeutung scheint mir der Bezug zu den von Rudolf Steiner erforschten, einander ablösenden (nicht nur nächtlichen) Bewusstseinszuständen von Wachen, Träumen, Schlafen, bzw. dem denkenden, mitfühlenden und schließlich den Willen ergreifenden Erleben der Jugendlichen zu sein. An einleuchtenden Beispielen demonstriert Bartoniczek, wie der Lehrer im Geschichtsunterricht bewusst und künstlerisch damit umgehen kann.

Wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit dem Symptombegriff Steiners, den Bartoniczek aus Goethes Symbolbegriff entwickelt: Er unterscheide sich vom Ursache-Wirkung-Denken der klassischen Geschichtsbetrachtung, indem das Symptom ein Zeichen oder Ausdruck für einen Vorgang sei, der sich geistig vorbereite, bevor er sich im geschichtlichen Ereignis ausdrücke – wie der Gedanke oder die Idee des Menschen vor der eigentlichen Tat. Entscheidend dabei sei die seelische Bewegung eines solchen »Bildes« im Betrachter – visuell oder sprachlich –, denn dieser vollziehe den Schaffensprozess des Künstlers bzw. des Erzählers nach. Er könne dabei die wahre Realität des Geschehens als Spiegel eines seelisch-geistigen Geschehens entdecken und so die einseitige Fixierung auf das äußere »Faktum« überwinden. Das unterscheide es von rein illustrativen oder gar spektakulären Veranschaulichungen, die Geschichtslehrer gerne in ihrem Unterricht verwenden, die damit aber noch lange keine tiefere seelische Bedeutung hätten.

Mit diesem Blick ergibt sich für Bartoniczek auch die Lösung des großen Geschichtslehrer-Problems der Auswahl aus der Fülle historischer Ereignisse: in der symptomatologischen Überprüfung des äußeren Faktums enthebe ich mich als Geschichtslehrer des Anspruchs, die irdische Fülle an Tatsachen um der sog. historischen Wahrheit willen »möglichst vollständig« wiedergeben zu müssen – und die Schüler zu verwirren.

Bartoniczek zitiert Rudolf Steiner, wenn er daran erinnert, dass nicht die Tagesereignisse als solche, sondern ihre Essenz in der nächtlichen Seele weiterwirken – eine inzwischen »wissenschaftlich« langsam anerkannte Lerntheorie. Damit stellt sich immer wieder die Frage: Was ist so wesentlich an dem, was wir den Schülern im täglichen Unterricht vermitteln, dass es sich lohnt, in der Nacht in der Begegnung mit den höheren geistigen Wesen (großes Extrakapitel bei Bartoniczek) verwandelt und damit zu eigen gemacht zu werden?

Hier sei auf einen weiteren wichtigen menschenkundlichen Aspekt verwiesen, dieses Mal aus dem Kapitel »Der Schüler«: Die »Geburt des Astralleibes« mit dem 3. Jahrsiebt bedeute, dass mit der freier verfügbaren Astralität etwas aus der geistigen, nicht-zeitlichen Welt (Ewigkeit) an Impulsen direkt durch den Nachtschlaf des Jugendlichen auf diesen zukomme, das anschließend sein zeitlich bedingtes Tagesbewusstsein bestimme: Er bringe Ideale mit und dränge auf Verwirklichung (Wille), d.h. Zukunft »meldet sich an«. Dabei stoße der Schüler mit seinen freiwerdenden astralischen Kräften immer wieder auf Rätsel, auf Überraschungen und Entwicklungssprünge. Enttäuschungen, Krisen, Todeserlebnisse, aber auch deren oft mühevolle Überwindung spielen in der seelischen Entwicklung des Jugendlichen eine genau so große Rolle wie in der Geschichte, für die sich der junge Mensch nun ganz persönlich interessiere. Insofern suche er im täglichen Leben das Besondere, das Bedeutende – so auch in der Geschichte der Menschheit. Übergeordnete, kollektiv verallgemeinernde Systemgeschichte oder rein ideologiekritische Interpretationen könnten hier nur den Prozess auf dem Weg nach Innen stören, im harmlosesten Fall langweilen.

Dem Er-Innern widmet Bartoniczek in diesem Buch zur Geschichte natürlich ein besonderes Kapitel, ist es doch ein sehr aktiver und immer wieder schöpferischer Akt, bei dem der Mensch seine ganze Vorstellungskraft und zugleich aktive Fantasie einsetze, um sich etwas zu »ver-gegenwärtigen« und sich schließlich zu eigen zu machen (eine völlig andere Aktivität als das Herauskopieren eines Wikipedia-Artikels für das Heft oder das Anschauen von medialem »Material«). So könne Geschichte selbst als große »menschheitliche Erinnerung« aufgefasst werden.

Einen enormen Stellenwert hat die historische Erzählung des Lehrers, die Bartoniczek bis in den sorgfältigen Sprachgebrauch hinein ausführlich untersucht und aus der heraus er den folgenden Dreischritt des Lernens über das »Urteilen« bis zum »Begriff« entwickelt.

Für den Lehrer stellt sich hier auch die Aufgabe einer lebendigen Gesprächsführung (nicht nur Moderation), d.h. Einsatz seines ganzen Ichs durch Interesse an der Sache und damit an der Entwicklung des Schülers. Wunderbar beschreibt Bartoniczek diese Situation eines geistesgegenwärtigen Lehrers: »Standfestigkeit und Zuwendung, Überblick ... Ernst und Humor müssen einander abwechseln ... Bei sich zu sein und zugleich beim andern – das ist die große Herausforderung für den Pädagogen im Gespräch.« Dazu Rudolf Steiner: »Nicht die Lerninhalte selber, sondern die menschliche Persönlichkeit ist die Quelle der Geschichtserkenntnis. Ihre seelische, schöpferische Tätigkeit stiftet die Wirklichkeit des historischen Datums. Das müssen die Schüler erleben können. Wissen steht im Buch, das allein ist aber noch gar nicht Geschichte, sondern die geht aus mir hervor.«

In seinem ganzen Werk geht es Bartoniczek immer wieder und vor allem um die Frage der gesundenden Wirkung von gutem Geschichtsunterricht, nämlich durch Begeisterung und »Ideale mit Willenscharakter« (R. Steiner), um die Angst und den heute üblichen Skeptizismus bis Pessimismus der Erwachsenen zu überwinden. Insofern hat André Bartoniczek mit diesem wunderbaren Werk den von ihm zitierten, berühmten Goethesatz vollauf bestätigt: »Das Beste, was wir an der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.«

Andre Bartoniczek: »Die Zukunft entdecken – Grundlagen des Geschichtsunterrichts«, geb., 699 S., EUR 44,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2014