Kompetent durch Medienfreiheit

Edwin Hübner

1996 initiierte die Deutsche Telekom zusammen mit der Bundesregierung die Initiative »Schulen ans Netz«. Bereits fünf Jahre später waren alle Schulen in Deutschland ans Internet angeschlossen. Dass der Computer die Schulen von Grund auf verändern würde, war eine weitverbreitete Meinung.

1999 sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer viel beachteten Rede: »Die Informationstechnik wird eine Revolution in den Klassenzimmern auslösen. Wir müssen die Pädagogik für das Informationszeitalter aber erst noch erfinden. […] Für mich steht fest: Computer gehören in jedes Klassenzimmer …«

Es gab auch andere Stimmen, die sich kritisch zu möglichen negativen Folgen der Computerisierung der Pädagogik aussprachen. Sie fanden damals wenig Gehör. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Schulen weltweit, die ihre Computer wieder in die Schränke eingeschlossen haben. Denn die erhofften Fortschritte im Lernen der Kinder sind nicht eingetreten, die Nachteile wogen schwerer als die Vorteile.

Mangelnde Schriftkompetenz

Am 23. Juli 2012 veröffentlichte Deutschland Radio ein Interview mit einem Hochschullehrer über das Ergebnis einer internen Untersuchung der Philosophischen Fakultäten in Deutschland. Diese stellte bei den Studierenden gravierende Qualitätsmängel fest, die »förmlich ins Auge springen«. Neben Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung, der Grammatik und dem Satzbau beobachteten sie eine mangelnde Fähigkeit, selbstständig zu formulieren, zusammenhängende Texte zu schreiben »und vor allem auch eine mangelnde Fähigkeit bei der Lesekompetenz.« Gleichzeitig attestierten die Professoren ihren Studenten eine »größere Medienkompetenz«.

Hier entsteht nun die Frage, was man denn unter Medienkompetenz zu verstehen hat, denn Schrift ist zweifellos auch ein Medium. Was nützt mir die Fähigkeit, mit Computern umzugehen, wenn ich Probleme mit der Schrift habe?

Inhalt, Form und Träger

Was ist überhaupt ein Medium? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ein konkretes Beispiel: Der Kriminalroman »Das goldene Ei« von Donna Leon kann als Buch erworben werden, als eBook und auch als Hörbuch. Der Inhalt des Krimis ist jedes Mal derselbe, aber einmal wird er als Text präsentiert und das andere Mal als Ton. Der Text wiederum kann auf verschiedene Weisen dargestellt werden: gedruckt in einem gebundenen Buch, als Anzeige auf dem Display eines eBooks-Readers oder auf dem Bildschirm eines beliebigen Computers. Die Tondatei wiederum kann auf einer CD gespeichert sein und von einem CD-Player abgespielt werden oder sie kann als Datei in einem MP3-Player vorhanden sein, der sie dann durch Kopfhörer hörbar macht.

An diesem einfachen Beispiel wird bereits deutlich, dass ein Medium mehrere Schichten aufweist:

1. Das, was dem Menschen inhaltlich vermittelt wird: der Medieninhalt.

2. Das Verfahren, wie etwas vermittelt wird, also Schrift, Ton oder Bild, kurz: die Medienform.

3. Die technisch-materielle Grundlage, auf der oder innerhalb der die Medienform auftritt, der Medienträger.

Bücher, CD-Player, Fernsehen und Computer sind genau genommen nur Medienträger. Sie bringen die Medienformen Schrift, Ton und Bild zur Erscheinung und erst diese eröffnen den eigentlichen Medieninhalt.

Die Beobachtung der Hochschullehrer der Philosophischen Fakultäten kann man dann so verstehen: Ihre Studenten besitzen eine hohe Kompetenz im Umgang mit dem Medienträger »Computer« und sind inkompetent bezüglich der Medienform Schrift.

Allseitige Medienkompetenz ist wichtig

Die Faszination durch die gewaltigen Möglichkeiten der IT-Technologien, verführt dazu, die »älteren« Medien gar nicht mehr als Medien anzusehen. Man übersieht dann, dass in den Schulen schon immer Medienpädagogik betrieben wurde: Denn das erste, was ein Kind in der Schule lernt, ist Schreiben und Lesen – das heißt, es erwirbt sich die Kompetenz bezüglich der Medienform Schrift. Auch gegenwärtig ist das noch die erste Aufgabe der Schule. Die Frage kann heute nur sein, ob man sich beim Schrifterwerb in der Grundschulzeit auf den Medienträger Papier beschränkt oder auch schon den Computer einsetzt.

Ein Mensch ist nicht wirklich medienkompetent, wenn er nur den PC handhaben kann. Medienkompetenz bedeutet, dass man die Vor- und Nachteile aller Medienformen und Medienträger kennt und in der Lage ist, je nach Sachlage das auszuwählen, was gerade am besten geeignet ist.

Pädagogik der Medienformen Schrift, Bild und Ton

Medienpädagogik hat verschiedene Schichten: Sie vollzieht sich einerseits auf den Ebenen der Medienformen Schrift, Ton und Bild und andererseits auf der Ebene der Medienträger. Jeder Ebene muss in der Schule Aufmerksamkeit gewidmet werden und auf jedem Gebiet gibt es ein Curriculum. Das sei beispielhaft an der Medienform »Bild« veranschaulicht (mehr dazu in Struwwelpeter 2.0).

Dass man den Umgang mit der Medienform Schrift gut beherrschen muss, leuchtet jedem ein. Aber auch die Medienform Bild muss man »lesen« können. Genauso wie Kinder lernen müssen, mit Texten umzugehen, müssen sie wissen, wie Aussagen in Bildern zustande kommen und wie sie verstanden werden können. In einem Curriculum, das sich an der Entwicklung der Kinder orientiert, ist es wichtig, dass die Kinder zuerst durch eigenes Tun Bilder schaffen. Das kann in der Vorschulzeit damit beginnen, dass sie mit Farbstiften oder Wasserfarben einfache Motive malen. In der beginnenden Schulzeit, wenn die Kinder dann fähig sind, ästhetisch zu empfinden, wird daran angeknüpft. Die Kinder lernen jetzt verschiedene Farbtöne zu unterscheiden und ästhetisch zu bewerten. Mit zunehmendem Alter werden die Bilder und Zeichnungen differenzierter und vielgestaltiger. Mit etwa zwölf Jahren (6. Klasse) ist die Einführung in die Gesetze der Projektion und der Schattenlehre sinnvoll. Anhand konkreter zeichnerischer Problemstellungen lernen die Kinder die Gesetze der Perspektive praktisch handhaben. In der 11. Klasse lässt sich das Erfahrene in der Epoche der projektiven Geometrie auch mathematisch exakt behandeln. Ab der 9. Klasse ist es sinnvoll, mit den Jugendlichen, wiederum anhand konkreter Projekte, die Sprache der fotografischen und filmischen Bilder kennenzulernen. Anzustreben ist, dass sie, indem sie selbst Filme machen, professionell hergestellte Filme analysieren und verstehen können. Jugendliche sollten auch verstehen, wie Werbung aufgebaut ist und funktioniert.

Ähnlich kann man das Curriculum für das Verständnis der Medienträger aufbauen. So sollten Kinder am Beginn ihres Schullebens einmal selbst Papier hergestellt haben und – wenn sie etwas älter sind – auch ein eigenes Buch gebunden haben. Ab der 9. Klasse können sie dann in die Prinzipien der Computertechnologie eingeführt werden und zwar wiederum vom praktischen Umgang mit elektronischen Bauteilen und Geräten ausgehend. Dazu gehört natürlich auch, dass Schüler lernen, wie man neben Büchern, Zeitschriften und Bibliotheken Onlineressourcen sinnvoll erschließt. Außerdem sollten sie die Stärken und Schwächen unterschiedlicher Präsentationstechniken praktisch erfahren und lernen, Präsentationssoftware sinnvoll einzusetzen.

Erosion der Konzentration

Der alltägliche Umgang mit Informationstechnologien zeigt – unabhängig von den Inhalten – kulturelle Nebenwirkungen. Ein Beispiel: Durch das viele Lesen von Texten am Bildschirm veränderte sich das Leseverhalten vieler Menschen: Es ist flüchtiger und damit oberflächlicher. Texte werden heute eher überflogen und weniger »durchgearbeitet«. Die Leser sind ungeduldiger. Der amerikanische Publizist Nicholas Carr berichtet von seinen Freunden: »Je mehr sie das Internet nutzen, desto schwerer fällt es ihnen, bei längeren Texten die Konzentration zu behalten.« Bruce Friedman, ein Pathologe der University of Michigan Medical School beklagt: »Ich habe inzwischen vollkommen die Fähigkeit verloren, einen längeren Artikel zu lesen und zu begreifen, ob nun im Internet oder in gedruckter Form.« Mit Recht befürchtet daher Brian Knutson, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Stanford University, »dass das Internet ein ›Überleben der Fokussierten‹ erzwingen könnte, bei dem Menschen, die mit einer natürlichen Fähigkeit gesegnet sind, auf direktem Kurs zu bleiben, oder die von genügend Stimulanzien aufgeputscht werden, vorwärtskommen, während der Rest von uns sich hilflos in einem webgestützten Aufmerksamkeitsstrudel bewegt.«

Die Konzentration mit Stimulanzien zu erzwingen, ist keine wirkliche Alternative. Viel wesentlicher dagegen ist die Frage, wie man Kindern ermöglicht, auf natürliche Weise ihre Fähigkeit zu stärken, innerlich »auf direktem Kurs zu bleiben«. Damit ist auf eine zentrale Frage hingewiesen, die im Diskurs über Medienpädagogik noch zu wenig thematisiert wird: Wie verändert sich der Mensch durch den Umgang mit seinen technischen Geräten und welche Gegengewichte müssen deshalb in der Pädagogik angeboten werden?

Indirekte Medienpädagogik

Die gesunde Ausbildung der leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen des Kindes ist die unerlässliche Basis für die Medienmündigkeit des erwachsenen Menschen. Daher ist die erste Aufgabe der Pädagogik, die gesunde Entwicklung dieser Anlagen zu unterstützen. Das Kind braucht viele praktische Herausforderungen, die es anregen, seine Fähig­keiten allseitig und gesund zu entwickeln. Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass alles, was diese Entwicklung behindert, ausgeschlossen wird. Man kann daher eine indirekte Medienpädagogik von einer direkten unterscheiden. Die indirekte Medienpädagogik hilft dem Menschen, genau die Kräfte zu entwickeln, die er braucht, um später den Anforderungen der technisch-medialen Welt gewachsen zu sein. Die indirekte Medienpädagogik will dem heranwachsenden Menschen helfen, »fokussiert« zu sein. Der amerikanische Kommunikationsexperte Howard Rheingold weist darauf hin, dass digitale Medien und Netzwerke nur dann sinnvoll eingesetzt werden können, wenn man die Fähigkeit der »Aufmerksamkeit« ausgebildet hat. Die Schulung der Aufmerksamkeit wiederum setzt geistige Disziplin voraus, die es erlaubt, die digitalen »Denkwerkzeuge« zu gebrauchen, ohne die Konzentration zu verlieren.

Solche Fähigkeiten lassen sich am besten innerhalb medienfreier Räume erwerben, da der mediale Raum sie tendenziell zerstört. Vor diesem Hintergrund erhalten die in den Waldorfschulen so intensiv gepflegten handwerklichen und künstlerischen Fächer eine zusätzliche, neue Bedeutung. Denn nirgendwo lässt sich – sozusagen handgreiflich – Aufmerksamkeit, Konzentration und Disziplin so leicht üben, wie bei der Arbeit an einem Werkstück aus Holz, einer Plastik oder Keramik aus Ton; denn jede Unaufmerksamkeit wird durch das Material unmittelbar und anschaulich gespiegelt. Im Chor oder Orchester lässt sich nicht gemeinsam arbeiten, wenn nicht alle Beteiligten mit konzentrierter Aufmerksamkeit dabei sind. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man jeden Unterricht anschauen und dort Elemente einer indirekten Medienpädagogik finden. Diese Elemente herauszuarbeiten und sie zu verstärken, ist von zentraler Bedeutung, denn heute und in der Zukunft ist alle Pädagogik eine Pädagogik im Informationszeitalter.

Mit seiner Behauptung »Wir müssen die Pädagogik für das Informationszeitalter aber erst noch erfinden« hatte Roman Herzog recht. Doch mit der technischen Ausstattung allein ist es nicht getan. Das Denken über Pädagogik muss sich grundlegend verändern. Die Pädagogik muss, wie der Philosoph und Hochschullehrer Gernot Böhme forderte, »antizyklisch sein […], also gerade das fördern […], was nicht im manifesten Trend der Entwicklung liegt«. In dieser Hinsicht steht die Revolution der Schule noch aus.

Zum Autor: Dr. habil. Edwin Hübner ist Lehrer für Mathematik, Physik und Religion an der Freien Waldorfschule Frankfurt/Main. Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) in Stuttgart, Dozent in der Lehrerausbildung, Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.

Literatur: Roman Herzog: Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog auf dem Deutschen Bildungskongress in Bonn am 13. April 1999

Ulrike Timm: Medienkompetenz sehr gut, deutsche Sprache mangelhaft. Deutschland Radio, Beitrag vom 23.07.2012

Arbeitskreis Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik im Bund der Freien Waldorfschulen (Hrsg.): Struwwelpeter 2.0 – Medien-

mündigkeit und Waldorfpädagogik, Hamburg 2014

Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin …: und was macht mein Gehirn solange? – Wie das Internet unser Denken verändert, München 2010

Brian Knutson: Gegenwärtiges vs. zukünftiges Selbst. In: John Brockman: Wie hat das Internet Ihr Denken verändert? Die führenden Köpfe unserer Zeit über das digitale Dasein, Frankfurt am Main 2011

Paula Bleckmann: Medienmündig: Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen, Stuttgart 2012

Howard Rheingold: Aufmerksamkeit, Erkennen von Unsinn und

Netz-Bewusstsein. In: Brockman 2011, S. 202ff.

Gernot Böhme: Bildung als Widerstand, in: Die Zeit, Nr. 38 v. 16.09.1999.