Der Mensch als Maßstab. Zur Architektur der Waldorfschulen

Matthias Mochner

Trifft es zu, dass Schulbauten Erziehung als künstlerischen Prozess nicht verhindern sollten, dann ist das Diktum mancher Waldorfschulen, möglichst nicht »anthroposophisch« bauen zu wollen, in dreifacher Weise kontraproduktiv. Es ignoriert erstens die pädagogischen Notwendigkeiten, es verleugnet zweitens den Strom der historischen Architekturentwicklung der Waldorfschulen und tradiert drittens das Vorurteil, das Wesentliche der Architektur der Waldorfschulen bestehe in »abgeschnittenen« Ecken. Seit Jahrzehnten wird in der Architektur der Gegenwart, zumal praktisch alle gewünschten Formgebungen heute technisch-konstruktiv und auch vom Material her möglich sind, nahezu jede gebaute Formgebung in der Öffentlichkeit hoch gelobt. Die Begrifflichkeit, die man dabei verwendet, bedient sich inzwischen immer öfters des Vokabulars der organischen Architektur.

Die Transparenz der Wand (meist aus Glas), der Bezug des Gebäudes zur (gebauten) Umgebung und nicht zuletzt die Orientierung, nur für den Menschen zu bauen, sind weltweit Leitkriterien einer wertschätzenden Beschreibung zeitgenössischer Architektur. Macht man jedoch die Probe auf das Exempel, indem man solche Bauwerke in ihrer konkreten Wirkung auf den gesamten Menschen (zum Beispiel ausgehend von den Forschungen von Christian Rittelmeyer aus den 1980er Jahren) an sich selbst prüft, so wird deutlich, wie abstrakt und wirklichkeitsfremd dieses Lob tatsächlich ist. In dem nahe dem Bahnhof in Wolfsburg durch die Architektin Zaha Hadid errichteten Experimentalmuseum Phaeno musste, um ein besonders gravierendes Beispiel zu nehmen, nach der Inbetriebnahme des Bauwerkes ein zusätzlicher Ort geschaffen werden, in dem die Besucher, da ihnen durch die vielen schrägen Wände und schiefen Böden physisch übel geworden ist, in Ruhe ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden können. Gleichwohl zählt das Bauwerk der britischen Tageszeitung »The Guardian« zufolge zu den zwölf bedeutendsten Bauwerken der Moderne. Vor diesem Hintergrund, der exemplarisch die eklatante Notsituation der Gegenwartsarchitektur, aber auch ihr Bedürfnis, in völlig neue Raumqualitäten vorzustoßen, sichtbar macht, dürfen sich die Waldorfschulen mit gutem Recht auf den ihren Schulbauten zugrunde liegenden, gemeinsamen Architekturimpuls beziehen. Indem sie das Substanzielle ihrer Architektur, das in jedem Einzelfall neu aus der Anthroposophie Rudolf Steiners entwickelt werden kann, besinnen, setzen sie nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in der Schularchitektur Maßstäbe.

Weiß Waldorf um das Besondere seiner Architektur?

Bauten, die für die noch ungeschriebene Geschichte der architektonischen Entwicklung der Waldorfschulen konsti­tutiv waren, wurden durch neue ersetzt. Dafür gibt es berechtigte Gründe. Doch es ist auch eine Tatsache, dass die Lebendigkeit und das Originäre der Architektur einer Waldorfschule im Schwinden begriffen ist. Viele Schulgemeinschaften gehen auf einen vielleicht am Ende nur noch mittelmäßigen Schulbau bei schwierigster Finanzierung zu. Und dieses Mittelmäßige wirkt – trotz aller Liebe und Mühen.

Denn der menschliche Organismus antwortet immer, bewusst oder unbewusst, auf die gebaute Wirklichkeit. Um dies als erwachsener Mensch zu bemerken, braucht man sich in einem Bauwerk nur einmal zu fragen, wie man sich darin wirklich fühlt: geborgen, verlassen, bedrückt, ignoriert und als Mensch beiseite geschoben, elend, niedergeschlagen oder beheimatet, inspiriert und über sich selbst weit hinaus gehoben, sodass man sich selbst neu begegnet?

Ein Weiteres kommt hinzu: Die heutigen Inkarnationsbedingungen der Kinder und Jugendlichen sind andere. Es ist inzwischen medizinisch unbestritten, dass die den Menschen umgebende äußere Wirklichkeit, sich immer mehr dahingehend entwickelt, dass das Individuum fortwährend schockartigen Wirkungen (zum Beispiel dem zu frühen Kindertagesstättenbesuch) ausgesetzt ist, die in ihm traumatische oder traumaähnliche Prozesse auslösen, die wiederum zu erhöhten Herzerkrankungen führen. Liegt es da nicht nahe zu erforschen, wie die Architektur einer Waldorfeinrichtung beschaffen sein muss, damit diese Wirkungen – zum Beispiel für die nicht unerhebliche Zeit des Schulbesuchs von 16.000 Stunden pro Kind – gemildert, aufgefangen, ja verwandelt werden? Wo, wenn nicht in Waldorfeinrichtungen, wo das Lebendig-Geistige in der Pädagogik gesucht, erforscht und praktiziert wird, sollten die Impulse für eine menschengemäße Architektur in Erscheinung treten?

Architektur wirkt auf die moralische Konstitution

Selbstverständlich sollen Neubauten von Waldorfschulen die Vergangenheit nicht kopieren. Allerdings können die Werte der Vergangenheit in der Gegenwart verwandelt und neu ergriffen werden. Ich bin überzeugt, dass die Notwendigkeit einer lebendigen Architektur gegenüber dem frühen 20. Jahrhundert weitaus größer ist. Die Dimensionen der Überzeugung Rudolf Steiners, dass wirklich gute Architektur bis in die moralische Konstitution des Menschen hinein heilend zu wirken vermag, zeichnen sich angesichts der Technologisierung und Digitalisierung der Ich-Welt-Beziehung immer klarer ab. In diesem Sinne Neues zu schöpfen ist die Aufgabe der kommenden Jahre.

Steiner sprach von »Stilformen des Organisch-Lebendigen«, die aus den lebendigen Kräften der Natur heraus geschaffen werden könnten, und er sprach, vor dem Hintergrund der Kulturepochen, von »Bauformen als Kultur- und Weltempfindungsgedanken«. Indem der Mensch Bewusstsein in die eigene Seelenentwicklung bringt, ist er vor die Aufgabe gestellt, die eigene Beziehung zum Geistigen konkret und individuell zu erfassen. Er kann sich nicht mehr auf die dem Verstand einleuchtende Polarität von Gut und Böse verlassen, sondern muss ein Gleichgewicht zwischen auflösenden und verhärtenden Tendenzen in sich selbst finden. Darin besteht das Neue.

Auch in der Architektur lässt sich dieses Ringen beobachten. Wie steht das menschliche Ich durch das Bauwerk zur Welt? Spiegelt ein Bauwerk lediglich das Einseitige unserer kognitiven, rational-intellektuellen Zivilisation, oder zeugt es von einer Kultur des Bauens, in der sich der Mensch als dreigliedriges Wesen sowohl körperlich als auch seelisch und schließlich geistig harmonisch entwickeln kann? Von hier aus kann man fragen: Wie artikulieren sich heutige »Kultur- und Weltempfindungsgedanken« im Schulbau? Es ist entscheidend, bei der Beantwortung dieser Fragen, den Begriff der Beziehung zwischen Ich und Welt geistig zu fassen, und nicht nur auf die Sinneswirklichkeit (des Gebauten) zu beziehen. Wenn es dem physischen Bauwerk gelingt, den Benutzer über die Sinneswahrnehmung in eine für seine gesamte Entwicklung gemäße Beziehung zum Geistigen zu bringen, darf tatsächlich erst von »Bauformen als Kultur- und Weltempfindungsgedanken« gesprochen werden.

Denn jede Architektur steht unter einem Gesetz, das von Paul Schatz (1898-1979), dem Entdecker der Umstülpung, im Jahre 1956 gegenüber dem Ingenieur Wolfgang Gessner (1881-1974) formuliert wurde: »Alles, was entsteht, ist wahrster Ausdruck der waltenden Kräfte. Selbst wenn irgend ein Bauwerk künftigen Beurteilern als Bausünde erscheinen sollte, gemessen an dem, was bereits zur Entstehungszeit als ideelle Grundlage der gestellten Aufgabe vorlag, konnte – so wird man wissen – in dem Gestalt-gewordenen den Möglichkeiten einer damaligen Elite nur soweit Ausdruck verliehen werden, als diese Möglichkeiten in der Gemeinschaft resonanzerzeugend zur Geltung kamen. Alles Bauen zeigt die Verfassung, in der sich eine Gemeinschaft befindet, wie in einem untrüglichen Spiegel.«

Der Bau als Spiegel der Gemeinschaft

Die Aufgabe, sich resonanzfähig für die »waltenden Kräfte« zu machen, wurde von dem Architekten Jens Peters, der zusammen mit Johannes Billing und Nikolaus Ruff den Saalbau der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe errichtete, so charakterisiert: »Die gemeinsame Arbeit und deren organische Strukturierung ist ein wesentlicher Teil der Architektur selbst. Architektur kann man nicht alleine realisieren, es müssen immer viele zusammenarbeiten. Der Baugestalt sieht man an, wie gut gemeinsam gearbeitet worden ist. Das Wichtigste in der Gemeinschaft ist die Gemeinsamkeit in der Bewusstseinsbildung, das heißt, die gemeinsame Verfolgung aller Prozesse, wer auch immer sie durchzuführen hat.« Im Jahre 2003 präzisierte er in dem Aufsatz »Eurythmie und Architektur«: »Unsere Bauten, die architektonischen Gesten, müssen von den eurythmischen Gesten lernen, wenn sie langsam auf den Weg gebracht werden sollen, für die Benutzer zu Gesetzgebern zu werden ...« Eurythmie arbeitet mit den »waltenden Kräften« des Ätherischen. Wo wird aktuell im Waldorfschulbau um das Ätherische gerungen? Wollte man, was immer einseitig ist, hierfür Beispiele nennen, so wären es der Oberstufenbau der Waldorfschule in Moss (2013) in Norwegen oder der in Strohballen- und Lehmbauweise errichtete Waldorfkindergarten in Leipzig (2011).

Im Jahre 2013 schrieb Jens Peters dem Verfasser: »Es ist notwendig, dass wir uns hineinarbeiten in die Metamorphose und zu der Erkenntnis kommen, dass es sich bei der Einführung des Metamorphosegedankens in die Baukunst um eine Mysterientat handelt.« Was manchem als anmaßende Formulierung erscheinen mag, hat seine tiefe Begründung. Es wird eine völlig neue Dimension des Nachdenkens über Architektur eröffnet, die über die übliche Diskussion des »Organischen«, »Lebendigen« oder »Anthroposophischen« in der Architektur hinausgeht: Anknüpfen an einen Mysterienimpuls heißt, sich im Bewusstsein einer Verantwortung gegenüber der geistigen Welt als Schule individuell in die Kontinuität eines geistigen Stromes zu stellen.

Der Gedanke der Metamorphose, den es vor Steiner in der Architektur nicht gab, impliziert, dass eine spezifische Formgestaltung an einem Bauwerk stets in einer inneren, gesetzmäßigen Beziehung zu der Gesamtgestalt des Bauwerkes steht. Die Metamorphose verneint architektonische Beliebigkeit. So wie die Form der Hand, des Fußes oder des Kopfes nicht der eigentliche Mensch ist, jede dieser Formgestaltungen aber nur im Zusammenhang des menschlichen Organismus an einer ganz bestimmten Stelle Sinn machen, um dem menschlichen Geist eine adäquate Wohnstatt im Irdischen zu bieten. Die Einführung dieses Gedankens in die Architektur schuf die Möglichkeit, die Gesetze des im Physischen Gebauten wiederum – in zeitgemäßer Weise – mit geistigen Gesetzen in Einklang zu bringen.

Ein guter Schulbau ist Ausdruck des seelisch-geistigen Lebens einer bestimmten Schulgemeinschaft. Da die Menschen, für die er errichtet wird, eine Altersspanne von knapp zwei Jahrsiebten umfassen, braucht es Formen, die den Lebensrhythmen, die sich zwischen dem Besuch des Kindergartens und dem Schulabgang vollziehen, angemessen sind. Die Waldorfschularchitektur entwickelte – in ihren besten Bauten – Raumqualitäten, welche die Beliebigkeit der Formensprache in der zeitgenössischen Architektur überwinden, dem rechten Winkel und dem Kubus die ihnen gemäßen Orte am Bauwerk zuweisen und, zum Beispiel durch die doppelt gebogene Fläche, den Schein des Lebendigen erlebbar werden lassen. Sie besitzt – dank des schwedischen Farbgestalters Fritz Fuchs (und anderer) – immense Erfahrungen in der künstlerischen Farbgestaltung unterschiedlicher Funktionsräume. Dieser Erfahrungsschatz hat – ohne dass es in der zeitgenössischen Architektur besonders bemerkt worden wäre – Vorbildcharakter. Dabei geht es um die als zeitlos gültig erlebte Wirkung des Gebauten.

Fragt man nach Leitideen, so findet man sie in den elf Stilkri­terien, die in dem Buch »Dornach Design« von Reinhold Johann Fäth dargestellt werden – als Quelle, nicht als Programm.

Eines zeichnet die Architektur der Waldorfschulen besonders aus, sofern es sich um Neubauten handelt: Sie sucht in einem tieferen Sinne den Menschen als Maßstab.

Zum Autor: Matthias Mochner ist freier Journalist, Referent und Studienreiseleiter. Er ist Redakteur der Zeitschrift »Mensch und Architektur« und Vorstandsmitglied des Internationalen Forum Mensch und Architektur, Deutschland e.V. Seit 2006 beschäftigt er sich mit dem Leben und Werk von Paul Schatz und arbeitet aktuell an einer Veröffentlichung zur biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise.