Waldorfschule Plus. Das Kasseler Modell

Rüdiger Skorbuski

Apple-Gründer Steve Jobs war noch sehr jung, als sein Vater ihm einen Teil seiner Werkbank in der Garage freiräumte. Der Sohn durfte helfen, wenn Gebrauchtwagen zerlegt, repariert und wieder zusammengebaut wurden, um an anspruchsvolle Kunden verkauft zu werden. Nicht die Automechanik war es, was Steve anzog. Er wollte gern beim Vater sein und er bewunderte dessen Gespür für Design. Im Rückblick hob er hervor, dass er bei ihm lernte, der Rückseite ebenso Beachtung zu schenken wie der Schauseite. Der Vater »mochte es, alles richtig zu machen. Er kümmerte sich sogar um Teile, die nicht zu sehen waren«, auch die sollten schön sein.

Auf wenigstens drei Aspekte der Bildung macht diese Erzählung aufmerksam. Zum einen erlernte Steve vom bewunderten Vater die nötigen handwerklichen Griffe. Durch die Arbeit am Gegenstand wurde er mit objektiven Gesetzen der Dingwelt vertraut und lernte sie zu handhaben. Zum anderen erlebte er, wie mittels Arbeit soziale Beziehungen gestaltet werden. Der Vater arbeitete so, dass die Käufer interessiert waren, und beim Preis wurde man sich einig, weil die Qualität der Arbeit geschätzt wurde. Der Vater übernahm für seine Arbeit Verantwortung. Aber auch die Qualität der Rückseite, und das ist der dritte wichtige Aspekt, wurde nicht vernachlässigt.

Es entstand Genugtuung über die eigene Tätigkeit, die aber dem Käufer persönlich gar nicht mitgeteilt werden musste. Hier war Freiheit im eigenen Handeln zu finden, indem ästhetische Maßstäbe angelegt wurden. Das Gelernte war für Steve Jobs noch in Zeiten, als Schule und Studien längst hinter ihm lagen, die tragfähige Grundlage für die eigene berufliche wie persönliche Lebensgestaltung.

Keine Arbeit für die Tonne

Alle drei Aspekte lassen sich auch bei der beruflichen Ausbildung an der Waldorfschule Kassel ausmachen. Die Schüler erlernen über den an Waldorfschulen üblichen Kanon handwerklicher Fächer hinaus einen Beruf.

Dabei werden sie, ihrem Alter angemessen, von Meistern unterwiesen. Der besondere Gedanke Erhard Fuckes aber ist, dass das berufliche Lernen der Schüler in der Regel an Aufträgen erfolgt. Das ähnelt dem, was Steve Jobs bei seinem Vater erlebt hat. Es geht um nichts Geringeres, als dass das Ergebnis der Anstrengung des Schülers nicht als sogenannte Lehrarbeit in der Schrottkiste landet, sondern von anderen benötigt wird. Indem der Schulunterricht durch die berufliche Bildung ergänzt wird, kann der Heranwachsende intellektuelle und handwerkliche Fertigkeiten ausgewogen erwerben.

Der Schüler übernimmt, vom Meister vertrauensvoll vermittelt, Verantwortung für das Ergebnis, das in der realen Welt gewollt und genutzt wird. Dass hier am Anfang wie am Ende des Werkprozesses der Kunde steht, ist bedeutsam. Er verbürgt in besonderer Weise die Realitätsnähe des Lernvorgangs. Das Ergebnis muss der Prüfung durch ihn standhalten. Finden Funktionieren und Sorgfalt der Ausführung seine Anerkennung, wird er den Schrank oder die Bühnenbeleuchtung wirklich kaufen und mit anderen Aufträgen wiederkommen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinen Untersuchungen das Verschwinden traditioneller Erwerbsbiografien konstatiert. Er formulierte in diesem Zusammenhang, dass sich früher der Charakter durch Treue und gegenseitige Verpflichtung, durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukünftiger Zwecke willen ausgedrückt habe. Indem die persönliche Kundenorientierung bei uns betont wird, knüpfen wir an ein solches traditionelles Arbeitsethos an. Denn für die berufliche Ausbildung der Jugendlichen ist es wichtig, durch den engen Kundenbezug das verkaufte Werkstück selbst als Ausdruck eines gelungenen Lernprozesses zu erleben. Dabei wird die in den Handwerksepochen übliche emotionale Beziehung des Schülers zum Ergebnis seiner Arbeit aufgegeben. In der industriellen Fertigung wird sein Können objektiviert.

Das entspricht dem Entwicklungsabschnitt des dritten Jahr­siebts. Die Arbeit am Werkstück verleiht dem Schüler eine innere Struktur, die hier in der Zeit der Pubertät angelegt wird, über die er dann später frei verfügen kann. Will der Schüler ein Ergebnis vorweisen, muss er einen Weg gehen. Dieser Weg ist in seiner Gliederung dem des Aufsatzschreibens nicht unähnlich:

Thema erfassen -> Auftrag entgegennehmen

Gliederung entwerfen -> Skizze, Maße

Stoffsammlung anlegen -> Material, Werkzeug

Entwurf niederschreiben -> Einzelteile herstellen

Ausarbeitung -> Montage

Korrekturlesen -> Funktion prüfen; Oberfläche

Rechtschreibung prüfen -> behandeln, Einzelnes nacharbeiten

Aufsatz abgeben -> Produkt übergeben

Mit dem Ergebnis seiner praktischen Arbeit stellt sich der Schüler der Kritik und hofft, dass es der Prüfung standhält. Indem der Kunde das Produkt kauft, erlebt der Schüler die Anerkennung seines Könnens. Das ist objektiv, das stärkt das Selbstbewusstsein.

Werkstätten und Abschlüsse

Die Werkstücke sind anspruchsvoll. In der Metallwerkstatt reicht die Palette von Stahlbaukonstruktionen wie Treppengeländern bis zu Komponenten, die in hohen Stückzahlen für verschiedene Industriebetriebe gefertigt und in Geräte eingebaut werden. In der Elektrowerkstatt haben sich Schaltschränke, aber auch Bühnenbeleuchtungen und Schaltpulte vor allem für Schulen bewährt. In der Holzwerkstatt gehören zur Standardfertigung Kindergarten- und Schulmöbel. Willkommen sind den Schülern vor allem individuelle Wünsche von Kunden, die ein originelles Möbel bestellen. Dass die Gewinnung von Kunden, die dem Werkstattprofil angemessene Aufträge geben, nicht immer einfach ist, versteht sich von selbst. Hier ist hohe Professionalität nötig. Die Schüler lernen an dieser Stelle, besonders im dritten Lehrjahr, die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge an der Praxis des eigenen Betriebs kennen.

Seit 1969 werden Schülern ab der 10. Klasse in der Metallwerkstatt neben allen schulischen, auch die beruflichen Abschlüsse angeboten. Später kamen eine Elektro- und eine Holzwerkstatt dazu. Die Oberstufenschüler haben die Möglichkeit, in den drei Werkstätten Ausbildungen zu durchlaufen, die mit dem Facharbeiter- oder dem Gesellenbrief abschließen. Anschließend legen sie bei entsprechender Qualifikation das Abitur ab. Die Schüler, die parallel zur Schule ihre berufliche Ausbildung durchlaufen, werden von Meistern und eigenen Fachkundelehrern begleitet. Bis zur 11. Klasse wird Wert auf den Erhalt des Klassenverbands gelegt (gemeinsamer Hauptunterricht, ausgewählte Fachunterrichte, Feldmesspraktikum). Gleichzeitig spezialisieren sich die Schüler in den Werkstätten. Die enge Verzahnung der beiden Ausbildungsstränge ist nicht reibungslos und erfordert die volle Aufmerksamkeit der begleitenden Lehrer. Dieser besondere Aufwand und die Verzögerung des schulischen Abschlusses um ein Jahr haben sich bewährt. Sie zeigen, dass Schüler, die die Werkstatt-Ausbildung durchlaufen und ihr zwölftes Schuljahr beendet haben, über gewisse praktische Erfahrungen beim Lösen von Problemen verfügen und ihre Arbeit strukturieren können. Sie sind aber auch nach der Lehrzeit aufgrund ihrer natürlichen Reife in der 12. und 13. Klasse in der Lage, die behandelten Fragen effektiv anzugehen und durch die gewachsene Fähigkeit zum kritischen Denken im Unterricht interessante Aspekte beizusteuern. Auch die Qualität der schulischen Abschlüsse zeugt von der gewachsenen Reife solcher Schüler.

Eine Generation trägt die nächste

Durch das Lernen an realen Aufträgen wird die Finanzierung der Werkstätten unterstützt. Ergänzend arbeiten angestellte Facharbeiter mit, die solche Aufträge übernehmen, die Schüler noch überfordern. Zugleich werden die Schüler im dritten Lehrjahr von diesen Facharbeitern zur Ausführung der Aufträge herangezogen. Eine Schwierigkeit ist immer wieder, den Schülern die finanzielle Struktur der Schule und des Berufsbildenden Gemeinschaftswerkes zu verdeutlichen. Im politikwissenschaftlichen Unterricht wird der Gedanke des Generationenvertrags diskutiert. Es gilt, die Schüler zu überzeugen, dass ihre eigene gute Ausbildung auf dem sorgfältigen Arbeiten der vorangegangenen Lehrjahre beruht, die durch die Marktfähigkeit ihrer Produkte die finanzielle Grundlage für die künftigen Lehrlinge sichern. Haben sie das verstanden, sind sie bereit, ihren Teil zur Zukunft beizutragen. Es muss nicht weiter betont werden, dass diese »Doppelqualifikation« nicht auf die Festlegung einer Karriere im Ausbildungsberuf zielt.

Die wenigsten Schüler streben so etwas an; sie gehen schließlich andere berufliche Wege. Das Anliegen des Kasseler Modells ist vielmehr, die Möglichkeiten der beruflichen Bildung für die allgemeine Menschenbildung ebenso zu nutzen wie die der schulischen. Die Tragfähigkeit der »Doppelqualifikation« zeigt sich in späterer souveräner Lebensgestaltung, wie sie die moderne Zeit erfordert.

Zum Autor: Rüdiger Skorbuski ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kassel und Verbindungslehrer zum Berufsbildenden Gemeinschaftswerk e.V.

Literatur: Walter Isaacson, Steve Jobs: Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, München 2011 | Erhard Fucke: Der Bildungswert praktischer Arbeit, Stuttgart 1996 | Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 2006