Die Engel helfen mit. Gehen, Sprechen, Denken aus medizinisch-therapeutischer Sicht

Christoph Meinecke

Mediziner und Psychotherapeuten stellen fest, dass die Zahl der Kinder mit seelischen und körperlichen Entwicklungsstörungen kontinuierlich zunimmt. Medizin, Neurobiologie, Entwicklungspsychologie und Anthroposophie sind sich einiger denn je, was die Ursachen dieser Störungen anbetrifft. Aber die all diesen Disziplinen gemeinsame humanistische und ganzheitliche Betrachtung des Menschen wird durch die Anthroposophie doch erweitert. Sie betrachtet auch die geistige Seite der enormen Entwicklung, die das Kind in den ersten drei Lebensjahren durchläuft.

Das Geistige hinter dem Sichtbaren

Wenn wir das kleine Kind beim Gehen-Lernen beobachten, können wir eine nahezu übermenschlich anmutende Ausdauer und Frustrationstoleranz erkennen: Das Kind gibt sein Ziel, ein aufrechter Mensch zu werden, nicht auf. Es lässt sich nicht davon abbringen, auch wenn es noch so oft stürzt. Dieser Entwicklungsdrang liegt auch dem Erwerb des Sprech- und Denkvermögens zugrunde. Warum wird uns diese Zielorientierung im späteren Leben nie wieder in solcher Intensität begegnen?

Der Grund für diesen enormen Entwicklungswillen ist, wie Rudolf Steiner dargestellt hat, im Wirken von geistigen Kräften, der sogenannten dritten Hierarchie zu suchen. Engelwesen, mit denen jede Menschenseele vor der Geburt vereint ist, strahlen ihre Kräfte auch nach der Geburt in den Menschen hinein: die Archai (Geister der Persönlichkeit) impulsieren das Erlernen des aufrechten Ganges, die Archangeloi (Erzengel) die Sprachentwicklung und die Angeloi (Engel) die Gedankenbildung. Durch sie hindurch aber wirkt das »Menschheits-Ich«, der Gott, der Mensch geworden ist. Das Kind »schwimmt« in den ersten drei Lebensjahren noch in einem Meer geistiger Wirkungen. Erst wenn gegen Ende des dritten Lebensjahres eine bewusste Selbstwahrnehmung auftritt und das Kind beginnt, sich als »Ich« zu bezeichnen, ziehen sich die genannten geistigen Wesenheiten nach und nach von ihm zurück.

Zu viel, zu früh, zu schnell

Die moderne Entwicklungsneurologie zeigt uns, wie wichtig es für den Erwerb höherer seelischer und geistiger Fähigkeiten ist, die einzelnen, jeweils aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritte ausgiebig, das heißt mit der nötigen Zeit und Intensität, zu durchleben. In der Neurobiologie konnte gezeigt werden, dass ein Mensch, dessen Gehirn sich langsamer differenziert, später über mehr neuronale Vernetzungen und damit über ein höheres kognitives Potenzial verfügt als ein Mensch, dessen Gehirn sich schneller differenziert.

Wir beobachten in der kinderärztlichen Praxis und in den pädagogischen Beratungs- und Betreuungssituationen im Familienforum Havelhöhe, wie Kindheit heute immer mehr von Hetze, Zeitdruck, Reizüberflutung und oberflächlichen Beziehungen geprägt ist. Dies führt zu vielerlei körperlichen und seelischen Problemen. Psychotherapeutische Behandlung wird nötig, weil die Kinder durch ihre Umgebung überfordert sind und unter dem »Zu viel, zu früh, zu schnell« leiden. Die damit einhergehende Symptomatik zeigt sich rasch und vielfältig:

Sie drückt sich in vermehrter Unruhe, übermäßigem Schreien und Schlafstörungen aus. Eine frühe Vertikalisierung des Säuglings, noch bevor er sich selber aufgerichtet hat, macht ihn offener für Reizüberflutung von außen, da gerade die Ablenkungssinne Sehen und Hören in der aufrechten Körperposition wacher sind. Auch Haltungsanomalien bis hin zu Haltungsschwäche und Haltungsschäden der Wirbelsäule treten im weiteren Leben häufiger auf, wenn der Säugling schon früh, das heißt vor dem siebten Lebensmonat, oft in die Aufrichte gebracht wird. Erstaunlich ist, dass beides, sowohl die vermehrte frühkindliche Unruhe als auch eine Haltungsschwäche der Wirbelsäule, im späteren Leben mit Aufmerksamkeits-, Lern- und Sprachentwicklungsproblemen einhergehen kann.

Eine zweite Ursache für seelische und körperliche Entwicklungsstörungen ist der Verlust elterlicher Bindung oder das Fehlen verlässlicher Bindungserlebnisse. Auch wenn der Lernimpuls in den ersten drei Lebensjahren unter Mitarbeit der geistigen Welt zwar unmittelbar aus dem Kind kommt, so benötigt es zum Lernen doch stets auch ein Vorbild und ein präsentes, miterlebendes Gegenüber. Welche Aufrechte und Aufrichtigkeit (!) zeigen wir in unserer Haltung? Wie ehrlich, authentisch und deutlich sind wir in unserem Sprechen und wie klar und verständlich drücken wir unsere Gedanken aus – oder verwirren unsere Kinder damit? Wie der Mensch als Kind in den ersten drei Lebensjahren lernt, mit sich selbst, mit seinem Körper, seiner Umwelt, seinen Mitmenschen, seinem geistigen Leben umzugehen, das prägt seine Gewohnheiten das ganze weitere Leben.

Epidemischer Bewegungsmangel

Wie können wir das Kind in den ersten drei Lebensjahren begleiten und ihm das nötige Vorbild sein? Die wesentlichen Komponenten hierfür sind: Raum geben, Zeit geben, Beziehung geben – innerlich erfüllt durch Klarheit, Ehrlichkeit, Vertrauen und Liebe.

Die Bewegungsentwicklung braucht einen Raum, in dem sie sich frei, freudvoll und ohne Leistungsdruck entfalten kann. Darauf hat Rudolf Steiner hingewiesen und es ist zu einem Grundprinzip der Waldorfpädagogik geworden. Jede Entwicklungsphase benötigt ihre Zeit. Nehmen wir Entwicklungsschritte voraus, die das Kind später von sich aus selber tun kann, entziehen wir ihm die Gelegenheit, sie selber zu erarbeiten und die Freude am selbst Erreichten. Dieses Erleben von Selbstwirksamkeit ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens. »Lass mir Zeit, es selbst zu tun« ist das hierzu passende und so genial von Emmi Pikler formulierte Motto der kindlichen Entwicklung.

Die Bewegungsentwicklung ist Voraussetzung und Schlüssel für alle weitere gesunde Entwicklung. Bewegungsmangel gefährdet die Gesundheit unserer Kinder zunehmend. Er führt zu Kreislauf- und Knochenerkrankungen, zu Stoffwechselstörungen, Übergewicht, zu Lern- und Verhaltensstörungen. Forscher bezeichnen den Bewegungsmangel als Epidemie des 21. Jahrhunderts. Gehen-Lernen ohne Liebe, sagte Rudolf Steiner zu den ersten Waldorfpädagogen, Gehen-Lernen unter Druck, kann im späteren Leben zu rheumatischen Erkrankungen und Stoffwechselstörungen führen.

Bedingungen der Sprach- und Denkentwicklung

Was benötigt nun die Sprachentwicklung als förderliche Atmosphäre? Ein positives Ergreifen der Sprache ist nur möglich, wenn in dem Gesprochenen Ehrlichkeit, also Auf- richtigkeit liegt, die sich als seelische Tugend aus der Entwicklung zum aufrechten Gang ergeben kann. Wenn Unehrlichkeit und Skepsis, eine manipulative, ironisierende oder diplomatische Absicht in der Sprache liegen, wirkt sie nicht bindungsfördernd. Wenn das kleine Kind gegenüber dem Gesprochenen des anderen auf der Hut sein muss, dann kann dies im späteren Leben zu psychosomatischen Verdauungs- und Essstörungen führen. Das Bemühen um deutliche Sprache führt zu klarer Gedankenbildung beim Sprechenden. Für die Entwicklung des Menschen ist es wichtig, dass er als Kind von klaren Gedanken umgeben ist. Dazu gehört auch: Welche Regeln gelten im sozialen Leben? Wie zeigen sie sich im alltäglichen Tun? Wie vermitteln wir sie? Welche Signale gebe ich dem Kind? Sind diese in sich widersprüchlich oder eindeutig auslegbar, also – wie es heute fachlich heißt – wie konsistent oder kongruent ist unser Erziehungsstil? Sprunghaftigkeit und Unklarheit in der Denkumgebung des Kindes haben psychosomatische Auswirkungen auf sein weiteres Leben. Sie führen zu vermehrter Unruhe und Nervosität. Steiner war es ein großes Anliegen, das Bewusstsein für diese Zusammenhänge zu schärfen. Tagtäglich finden wir sie bestätigt.

Es wäre ein Missverständnis, daraus zu schließen, dass wir den Kindern so früh wie möglich Weltzusammenhänge kausal erklären müssten. In der ersten Lebensphase lernt das Kind vor allem durch Nachahmung und am Modell. Es will zunächst von uns erfahren, wie die Welt ist, und nicht, warum sie so ist, wie sie ist. Erklärender Erziehungsstil, vor allem in den ersten sieben Lebensjahren, führt bei Kindern zu Ängsten und Schlafstörungen. Das erleben wir immer wieder in der täglichen Praxis. Die Gedankenklarheit wird also dem Kind nicht intellektuell vermittelt, sondern es erlebt sie in den Verhältnissen, die es umgeben – oder auch nicht.

Besser spät als nie

Die ersten drei Lebensjahre und die Art, wie Gehen, Sprechen und Denken gelernt werden, prägen das gesamte weitere Leben. Dies verstehbar und erlebbar zu machen, war eines der Kernanliegen Steiners. Im Grunde genommen bergen seine Ausführungen den Aufruf in sich, eine Prävention zu etablieren, die bereits in der frühesten Kindheit beginnt. Das Familienforum Havelhöhe hat ein entsprechendes Frühpräventionskonzept entwickelt und arbeitet seit über zehn Jahren damit.

Und doch ist, selbst wenn in den ersten Jahren vieles versäumt worden sein sollte, nicht alles verloren. Wie Trost und Ansporn kann man die Hinweise aus der Anthroposophie aufnehmen, nach denen wir die Möglichkeit haben, jede Nacht an die in den ersten Jahren im Menschen wirksamen Geisteskräfte und -wesen anzuknüpfen. Dadurch können wir das ganze Leben lang den Anschluss an die gesundenden Wirkungen finden. Dies geschieht, wenn wir uns am Tag so in unserem Handeln, Sprechen und Denken üben, dass es in der Nacht von den Wesenheiten der dritten Hierarchie wahrgenommen werden kann. Steiner drückt dies in etwa so aus: Menschenfreundliches Tun am Tag unter Achtung des anderen Menschen als Geistwesen ermöglicht uns in der Nacht das Anknüpfen an die Kräftesphäre der Archai. Idealistisch-wohlwollende Gesinnung dem anderen Menschen gegenüber in der Sprache am Tag gibt der Sprache den Wohlklang, der in der Nacht von den Archangeloi wahrgenommen wird.

Idealismus und Spiritualität im Denken am Tag lassen uns in der Nacht an die Sphäre der Angeloi, der Engel Anschluss finden. Hier tut sich ein täglicher Übungsweg auf, auf dem wir über unser Handeln, Sprechen und Denken an die geistigen Wirkungskräfte der Engelwelt wieder anknüpfen und so heilsam auf uns und unsere Umgebung wirken können.

Zum Autor: Dr. Christoph Meinecke ist Vater von fünf Kindern und Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Familienforum Havelhöhe gGmbH (www.familienforum-havelhoehe.de) und geschäftsführender Vorstand des Emmi-Pikler-Haus e.V. Berlin (www.emmi-pikler-haus.de).

Literatur:

Rudolf Steiner: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15, Dornach 1983 | Rudolf Steiner: Drei Etappen des Erwachens der menschlichen Seele. Vortrag, Prag 28.4.1923, GA 224, Dornach 1992 | Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geistes-wissenschaftlicher Menschenerkenntnis, GA 306, Dornach 1989 | Alexander Woll: Bewegungsmangel als Epidemie des 21. Jahrhunderts. In: Tagesthemen, ARD, 19.5.2013 | Emmi Pikler: Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen, München 1988 | Philip Shaw: Intellectual ability and cortical development in children and adolescents, Nature 440, p 676-679 (30. March 2006)