Die Welt ist gut

Philipp Gelitz

Das Kind lernt durch das In-der-Welt-sein

In der Zeit zwischen der Geburt und der Schulreife werden alle grundlegenden Fähigkeiten des Menschen ausgebildet. Er lernt, sich aufzurichten, zu sprechen, zu denken, den Löffel zu halten, Blumen zu gießen und die Hände zu waschen. Außerdem findet über die Sinneserfahrungen eine atemberaubende neuronale Vernetzung statt, die in den ersten zwei bis drei Lebensjahren am allerstärksten ist und in dieser Intensität in nachfolgenden Lebensepochen nicht mehr wiederkehren wird. Die sich entwickelnden Fähigkeiten und die langsam zusammenwachsenden Bedeutungszusammenhänge, die durch die immer wiederkehrenden sinnlichen Erfahrungen in der frühen Kindheit errungen werden, sind die Basis, von der aus der Mensch dann in die nächsten Lebensalter übergeht.

Dabei ist besonders zu beachten, dass das Kind fast alles ohne Erklärung, allein durch Nachahmung der Umgebung und durch freies Spiel lernt. Keinem Kind kann erklärt werden, wie es sich aufzurichten, zu sprechen oder gedankliche Verknüpfungen zu erzeugen hat. Keinem Kind kann erklärt werden, wie man sich auf einem Bein die Füße abtrocknet. Und keinem Kind kann man erklären, dass »Wasser«, »durchsichtig« und »nass« drei Begriffe sind, die zusammengehören. Das Kind lernt diese Dinge implizit, das heißt, durch das unreflektierte Leben im gegenwärtigen Zusammenhang. Es spielt mit der Bewegung und der Sprache, es ahmt einfach nach, was um es herum geschieht und es nimmt die Offenbarungen der Welt über Auge, Nase und Ohr zunächst gedankenlos wahr und kommt dadurch in der Folge zu immer wirklichkeitsgemäßeren Begriffen. Nichts muss bis hierhin erklärt, bewusst erinnert und begrifflich verstanden werden. Die grundlegenden Dinge der Welt werden zunächst vom Kind ergriffen, bevor sie dann später gedanklich begriffen werden können.

Die Verantwortung des Vorbildes

Wer sich diesen unbewusst mitschwingenden Weltzugang des kleinen Kindes durch Nachahmung bewusst macht, der sieht als erstes die Verantwortung, die daraus entsteht. Wie bewege ich mich? Wie spreche ich? Was tue ich, und wie tue ich es? Wie sieht die sinnliche Umgebung des Kindes aus – grell oder zurückhaltend, hektisch oder ruhig, kalt oder warm, eckig oder rund?

Ich selbst muss mich also dazu erziehen, ein Vorbild für das Kind zu sein und ihm eine sinnliche Umgebung bereitstellen, die es nicht mit Reizen überflutet, die sinnvoll, anregend ist und Hülle gibt. Ich selbst und die von mir für das Kind gewählten Umgebungen sind es, an denen es sich nachahmend entwickelt. Dazu Rudolf Steiner in Die Erziehung des Kindes: »Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im Nachahmen gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann bleiben. Man muss die physische Umgebung nur in dem denkbar weitesten Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell um das Kind herum vorgeht, sondern alles, was sich in des Kindes Umgebung abspielt, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden kann, was vom physischen Raum aus auf seine Geisteskräfte wirken kann. Dazu gehören auch alle moralischen oder unmoralischen, alle gescheiten und törichten Handlungen, die es sehen kann.« Und weiter: »Wenn vor dem siebenten Jahre das Kind nur törichte Handlungen in seiner Umgebung sieht, so nimmt das Gehirn solche Formen an, die es im späteren Leben auch nur zu Torheiten geeignet machen.«

Das Kind bringt etwas mit

Was ist das aber nun, was da das Kind auf die Welt anwendet? Ist es nur zu dumm, um das erklärende Wort des Erwachsenen zu verstehen, und behilft sich deswegen notgedrungen mit Nachmachen? Wer sich dieser Frage ernsthaft annimmt, wird beobachten können, dass kleine Kinder zwar sehr wohl hören und verstehen, was die Erwachsenen sagen und erklären, dass der ihnen eigene Zugang zur Welt aber eben nicht das Befolgen, sondern das Mitleben, das Mitschwingen mit der Umgebung ist. Das ist etwas ganz anderes als Nachmachen, das ist eben Nachahmung. Nachmachen heißt anschauen, verinnerlichen und dann selber probieren. Nachahmung ist sofortiges unbewusstes Mittun. Wenn der Erwachsene sagt: »Pssst, leise!«, dann sagen die meisten Kindergartenkinder auch: »Pssst, leise!«. Nur ruhiger wird es dadurch eben selten.

Das Kind bringt etwas mit, das wie eine Grundstimmung in ihm lebt. Es geht davon aus, dass alles in der Umgebung nachahmenswert ist. Der Jugendliche geht davon aus, dass es sich lohnt, den Dingen gedanklich auf den Grund zu gehen. Er braucht die Wissenschaft und selbst errungenes, freies Urteil. Das jüngere Schulkind geht davon aus, dass die Welt schön ist, dass Ästhetik und Musikalität die Welt durchwirken. Es will die Dinge schön machen und sie dann den Lehrern zeigen. In den ersten sieben Lebensjahren besteht aber weder die Möglichkeit, geliebten Autoritäten nachzufolgen und für diese alles schön zu machen, noch analytisch-wissenschaftlich zu arbeiten und aus der Erkenntnis heraus ein freies Urteil zu fällen.

Im ersten Jahrsiebt lebt das Kind einzig und allein in der unbewussten Grundstimmung: Alles, was um mich ist, ist gut. Und weil es gut ist, lebe ich die Welt mit. Wenn ein kleines Kind skeptisch dekonstruieren würde, ob die Gangart des Vaters eine angemessene ist, so würde es nicht gehen lernen. »Es muss wohl alles gut sein«, spürt das Kind tief unbewusst. Und es ahmt einfach alles, auch jeden Unfug, freudig – und im eigentlichen Sinne gewissenlos – nach.

Die Welt ist moralisch

Eine solche Hingabe an die Welt, ein so unerschütterliches Urvertrauen, bedeutet nichts anderes, als dass das Kind voraussetzt, dass alles, was in seinem Gesichtskreis auftaucht, moralisch ist. Damit ist nicht gemeint, dass das Kind selbst bereits ein moralisches Empfinden von Gut und Böse besitzt (das entwickelt sich erst langsam gegen Ende des ersten Jahrsiebts), sondern dass das, was es sieht, immer das Richtige ist. Das gleiche Kind kann sowohl Käfern im Wald ein Zuhause bauen, weil es Käfer so liebt und alle Käfer gut sind, als auch genüsslich mit dem imaginären Gewehr auf seine Freunde schießen, weil es so etwas irgendwo einmal gesehen hat. Es ist für das Kind zunächst beides gleich gut, weil es unbewusst davon ausgeht, dass alles in der Welt moralisch richtig ist. Es ist durchaus interessant, festzustellen, dass Rudolf Steiner selbst die Formel »Die Welt ist gut« gar nicht benutzt hat. Vielmehr heißt es bei ihm: »Die Welt ist moralisch.« Das meint zwar das Gleiche, gibt der Angelegenheit aber etwas mehr Ernst und Bedeutung. Im 9. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde heißt es: »Wenn der Mensch aus der geistig-seelischen Welt heraustritt, sich mit einem Leibe umkleidet, was will er da eigentlich? Er will das Vergangene, das er im Geistigen durchlebt hat, in der physischen Welt verwirklichen. Der Mensch ist gewissermaßen vor dem Zahnwechsel ganz auf das Vergangene noch eingestellt. Von jener Hingabe, die man in der geistigen Welt entwickelt, ist der Mensch noch erfüllt.

Daher gibt er sich auch an seine Umgebung hin, indem er die Menschen nachahmt. Was ist denn nun der Grundimpuls, die noch ganz unbewusste Grundstimmung des Kindes bis zum Zahnwechsel? Diese Grundstimmung ist eigentlich eine sehr schöne, die auch gepflegt werden muss. Es ist die, welche von der Annahme, von der unbewussten Annahme ausgeht: Die ganze Welt ist moralisch.«

Alles ist gut

Wer diese anthroposophische Perspektive mit einnehmen mag, der kann für sich noch einen weiteren Auftrag verspüren als »nur« ein gutes Vorbild in seinem Handeln und in seinem Sprechen zu sein. Diese Grundstimmung, alles sei moralisch richtig, darf nie erschüttert werden – sie sollte vielmehr »gepflegt werden«. Und zwar deshalb, weil das Kind seinen Nachahmungstrieb verliert, wenn es diese Grundstimmung verlässt.

Es ist ein Charakteristikum gerade des zweiten Jahrsiebts, dass die Antipathie die Sympathie langsam und stetig bis zur Pubertät überlagert, bis dann mit etwa vierzehn Jahren der totale Rückzug eintritt.

Nehmen wir aber dem Kind bereits im Kindergartenalter oder gar noch davor die Sicherheit, dass die Welt in allem, was um uns ist, gut ist, dann braucht sie auch nicht mehr nachgeahmt zu werden.

Wichtigste Erfahrungen gehen damit fürs Leben verloren, weil das Kind dann versucht, aus Nachfolge oder Einsicht zu handeln, und sich nicht mehr allein durch tätigen Mitvollzug oder durch freies Spiel Fähigkeiten der Geschicklichkeit, der lebenspraktischen Kompetenz und der Sinneserfahrung aneignet.

Man könnte auch sagen: Ohne basales Grundvertrauen keine ausreichende basale Erfahrung!

Das Verhältnis zur Welt ist sicher

Die Bindungsforschung bestätigt diesen Zusammenhang. Erst eine sichere Bindung ermöglicht die spielerische Erkundung der Welt. Eine noch nicht so weit verbreitete Ansicht ist aber, dass nicht nur die Bindung zu Mutter oder Vater gut und sicher sein muss, um überhaupt auf die Welt zugehen zu können, sondern, dass auch das Verhältnis zur gesamten Welt gut und sicher sein muss, um sich ihr nachahmend hingeben zu können. Die oft aus intellektueller Überlegung eingeforderte »Ehrlichkeit« gegenüber dem kleinen Kind: dass es ja auch viel Schlimmes auf der Welt gibt, dass es selbst entscheiden soll, dass es doch erklärt bekommen muss, warum wir jetzt die Jacke anziehen müssen … behindert es nur in seinem altersentsprechenden Zugang zur Welt.

Diese Hingabe an die Welt kann man auch ein naturhaft-religiöses Verhältnis nennen. Kleine Kinder glauben nicht den Worten einer Obrigkeit, sie gehören keiner Religion, Konfession oder Weltanschauung an. Sie glauben aus sich heraus an die Güte der Welt.

Lassen wir ihnen also diese unbewusste Verehrung und Hingabe gegenüber allem, was ist, und pflegen wir sie! Dann wird nämlich erstens alles Lebensnotwendige gelernt, und zweitens wächst daraus auch die Kraft, später den Glauben an das Wahre, Schöne und Gute in der Welt nicht zu verlieren.

Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel.

Literatur: Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes, Dornach 2003; Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, 9. Vortrag, GA 293, Dornach 1992