Da – plötzlich – wurde eins zu zwei

Lorenzo Ravagli

Goethe erkannte, dass alle Erscheinungen des Lebendigen die Metamorphose einer Uridee sind, die mit dem geistigen Auge geschaut werden kann. Schiller beschrieb in seinen Dramen, wie sich die Seele des Menschen zur Freiheit emporringt und betrachtete das Natur- und Kunstschöne als ein Mittel der Selbsterziehung. Novalis sprach dem Menschen die Fähigkeit zu, auf dem Wege des magischen Idealismus mit dem natürlichen und geistigen Kosmos zu einer lebendigen Einheit zusammenzuwachsen. Fichte ließ die Natur und Geisterwelt aus den Tathandlungen eines geistigen Wesens hervorgehen, das er als »Ich« bezeichnete. Schelling versuchte mit Hilfe der ideellen Anschauung, die symbolische Beziehung zwischen Natur und übersinnlicher Welt zu entschlüsseln. Und Hegel schließlich ließ den Weltprozess aus dem Logos hervorgehen, der sich in die Natur entäußert, um sich im denkenden Menschen selbst zu finden. Um zur Anthroposophie zu führen, musste diese Vorarbeit nur noch durch die Idee Lessings ergänzt werden, das Menschengeschlecht werde durch die Reinkarnation spirituell erzogen. Hätte die deutsche Wissenschaft diese Ideen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit demselben Eifer weiter entwickelt, mit dem sie sich auf die Erfahrungserkenntnis und die Philologie stürzte, dann hätte die Geschichte im 20. Jahrhundert anders ausgesehen. Aber im deutschen Kaiserreich ging die geistige Entwicklung einen anderen Gang: statt an Ideenreichen bauten die Deutschen an politischen und wirtschaftlichen Imperien. Nur in gewissen österreichischen Kulturwinkeln konnte man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch so an der Ideenwelt der Klassik und Romantik orientieren, wie Steiner dies anfangs tat. 

Statt Philosophie der Griff zur Weltmacht 

Der geniale Nietzsche hatte frühzeitig diagnostiziert, in welche Richtung die Deutschen sich bewegten, als er von der »Exstirpation« des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches sprach. Am Niedergang der Kultur litt Nietzsche mit seiner empfindsamen Seele so sehr, dass er sich in den Wahnsinn flüchtete. Auf einmal sollte sich nicht mehr die Menschheit im spirituellen Weltenbaum vereinigen, sondern die Proletarier aller Länder, um die Kapitalisten auszurotten.

Auf einmal sollten sich die Menschenseelen nicht mehr am Schönen zur Freiheit erziehen, sondern es sollten sich die »rassebewussten Arier« gegen die Bedrohung ihrer Brut zusammenschließen, die laut der naturwissenschaftlichen Avantgarde von minderwertigem Erbmaterial ausging. Der Mensch sollte sich nicht mehr als Abkömmling des Logos betrachten, der sich mit dem Weltgeist erkennend zusammenschließt, sondern als Nachfahre von Affen. Aus den Tiefen des Unbewussten tauchten »polymorphe Perversionen« auf, die das Streben des Menschen nach Höherem als eine Sublimation sexueller Instinkte erscheinen ließen.

In Sils-Maria dichtete der große Diagnostiker seiner Zeit: 

Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei –
– Und Zarathustra ging an mir vorbei … 

Je mehr Friedrich Nietzsche sich diesem schillernden Führer in das Reich des Wahnsinns öffnete, der mehr als eine bloße Phantasiegestalt war, um so mehr wurde er selbst zum Propheten des Nihilismus, zum Visionär des Übermenschentums. Nachdem er aufsehenerregende Schmähungen auf den Stifter der »Religion des Ressentiments«, das Christentum, veröffentlicht hatte, identifizierte er sich in seiner Umnachtung am Ende selbst mit dem Gekreuzigten.

Wir können davon ausgehen, dass Steiner nicht weniger als Nietzsche am Niedergang der europäischen Kultur litt. Er wäre nicht nur fast der Herausgeber seiner Werke geworden, sondern auch am liebsten, wie er 1892 schrieb, »Friedrich Nietzsche vor dem Wahnsinn« gewesen.

Vom Pathos der Erkenntnis sprechen Zeilen seiner Autobiographie, die seine geistige Verfassung um die Jahrhundertwende beschreiben: »Den Gegensatz zwischen dem, was mir klare Wahrheit war, und den Ansichten meines Zeitalters erlebte ich so, dass dies Erlebnis die Grundfärbung meines Lebens ... um die Jahrhundertwende ausmachte ... Ich empfand gerade gegenüber dem vielen Guten, das ich schätzen konnte, tiefen Schmerz, denn ich glaubte zu sehen, dass ihm als Entwickelungskeime des geistigen Lebens sich überall die zerstörenden Mächte entgegenstellten.

So erlebte ich denn von allen Seiten die Frage: Wie kann ein Weg gefunden werden, um das innerlich als wahr Geschaute in Ausdrucksformen zu bringen, die von dem Zeitalter verstanden werden können? ... Und die Frage wurde Erlebnis: Muss man verstummen?« 

Steiner erlebte das Wesenhafte hinter dem Materialismus seiner Zeit 

Aber Steiner verstummte nicht. Er versuchte, selbst in den geistfernsten Gedankenformen noch jene Ideenkeime zu entdecken, die als Saaten geistiger Erkenntnis aufgehen können. Und er setzte sich mit den materialistischen, reduktionistischen Philosophien seiner Zeit nicht nur ideell auseinander, sondern erlebte an ihnen das geistig Wesenhafte. Während er sich in die materialistische Gedankenwelt vertiefte, erlebte er die »Nähe von Wesen der Geist-Welt«, die diese Denkrichtung »zur allein herrschenden« machen wollten. Einseitigkeit in der Erkenntnis war für ihn »nicht bloß der Anlass zu abstrakter Verirrung«, sondern »geistlebendiger Verkehr mit Wesen« des Irrtums. »Von ahrimanischen Wesenheiten habe ich später gesprochen, wenn ich in diese Richtung weisen wollte. Für sie ist absolute Wahrheit, dass die Welt Maschine sein müsse«, schrieb er.

Die wenigsten Zeitgenossen erlebten wie Nietzsche jene inspirierenden Mächte, die sie zum Wahnsinn trieben. Von der Epidemie der mechanistischen Weltsicht wurden sie gleichwohl ergriffen. Rudolf Steiner dürfte einer der ganz wenigen gewesen sein, die diese geistigen Mächte nicht nur erlebten, sondern auch erkannten.

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