Das Geistselbst – engelverwandt

Mario Betti

Die Anthropologie der Waldorfpädagogik kennt noch drei höhere Wesensglieder des Menschen, die in unser Wesensgefüge eingreifen: das Geistselbst, den Lebensgeist und den Geistesmenschen. Sie sind als gleichsam göttliche Instanzen die eigentlichen Tonsetzer unserer Biografie.

Diese Trinität stellt im Detail das dar, was Schiller mehr im Allgemeinen als den »idealischen Menschen« bezeichnet. Es handelt sich um Anlagen, die wir durch eigene, freie Erkenntnis und Moralität entfalten können, indem wir die genannten Seelenqualitäten veredeln und dadurch weiter- entwickeln. Die Achse, an der sich diese Transformation abspielt, ist unser »Ich«: das identitätsstiftende Zentrum unserer Persönlichkeit und der Urquell unserer gesamten Kreativität. So wie der Genius des Künstlers den formlosen Stoff – Farbe, Marmor oder anderes – gestaltet und zum Kunstwerk erhöht, so kann unser Ich mit den menschlich-allzumenschlichen Aspekten unserer Seele umgehen, um sie im Laufe der Zeit durch seine »göttliche« Anlage zu verwandeln. Auf der einen Seite ist also das Geistselbst ein Göttliches – engelverwandt –, auf der anderen Seite erweist es sich als verwandelter »Seelenstoff«. Es ist ein ähnlicher Prozess, auf den Goethe im Faust I hinweist: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Es handelt sich allerdings um eine Umwandlung, die mitunter das Ergebnis einer harten Selbsterziehung ist.

Drei Beispiele möchte ich nennen, die für sich selber sprechen, zumal sie in der Richtung zu deuten sind, die ich eben skizziert habe.

Franz von Sales – Nelson Mandela – Sadat

Das erste stammt von Franz von Sales (1567-1622), Fürstbischof von Genf und Mystiker, der mit seinem affektgeladenen Naturell stets schwer gerungen hat. Einmal, als er aufgefordert wurde, sich über ein ihm angetanes Unrecht zu ereifern, gab er folgende Antwort: »Wollen Sie, dass ich in einer Viertelstunde das bisschen Sanftmut verliere, das ich mir seit zwanzig Jahren mit so vieler Mühe erworben habe?« Das zweite Beispiel ist aus unseren Tagen.

Wir wissen, welche große Verwandlung Nelson Mandela in den vielen Jahren seiner Haft erreicht hat. So schreibt er, der seinen Feinden ursprünglich nur Schaden zufügen wollte: »Während dieser langen, einsamen Jahre wurde aus meinem Hunger nach Freiheit für mein eigenes Volk der Hunger nach Freiheit aller Völker, ob weiß oder schwarz. Ich wusste so gut, wie ich nur irgend etwas wusste, dass der Unterdrücker genauso befreit werden musste wie der Unterdrückte. Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern von Vorurteil und Engstirnigkeit ... Als ich das Gefängnis verließ, war es meine Aufgabe, beide, den Unterdrücker und den Unterdrückten, zu befreien.«

Solche »Veredelungsprozesse« können auch Einblicke in die höhere Dimension der Seele ermöglichen, wie es zum Beispiel bei Anwar El Sadat, dem 1981 tragisch ums Leben gekommenen ägyptischen Staatspräsidenten, der Fall gewesen ist. Sadat war bekanntlich am Friedensabkommen mit Israel in dem Vertrag von Camp David maßgeblich beteiligt. Er schrieb in seiner Autobiografie über seine Erfahrungen während einer früheren Gefangenschaft: »Zwei Orte auf der Welt machen es einem Menschen unmöglich, vor sich selbst davonzulaufen: das Schlachtfeld und eine Gefängniszelle. In der Zelle 54 hatte ich nur mich selber als Gesellschafter, Tag und Nacht. Und es war nur natürlich, dass ich dieses mein ›Selbst‹ nun kennenlernte. Niemals zuvor hatte ich eine solche Gelegenheit, denn ich war stets mit meinem Dienst in der Armee und mit Politik befasst gewesen und vom Strom des Lebens überschnell dahingetrieben worden. Nun, in der völligen Abgeschlossenheit … war paradoxerweise das einzige Mittel, meine Einsamkeit zu durchbrechen, die Gesellschaft jener inneren Einheit zu suchen, die ich das ›Selbst‹ nenne. Das war nicht leicht. Eine Barriere schien zwischen uns zu sein. Es gab Gebiete des Leidens, die dieses ›Selbst‹ im Dunkeln hielten, Schatten, die mein Denken bedrängten und die Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis verschärften.«

Und dann erfolgte der Durchbruch zu einer höheren Dimension des Eigenseins, der Zugang zum Göttlichen im Innern: »Gott ist gut und gnädig … Gott ist ganz anders als jenes Bild, das uns einst ein Scheik in der Koranschule in unserem Dorf zeichnete: als ein übermächtiges und furchterregendes Wesen.« Es eröffneten sich ihm »unendliche Horizonte der Liebe. Meine Beziehungen zum Universum erhielten neue Gestalt, und Liebe wurde zur Quelle all meiner Taten und Gefühle«.

Das sind freilich ganz individuelle Ereignisse im Leben von reifen Erwachsenen. Wie kann man nun Kindern helfen, etwas von diesem Licht »von oben« zu behalten? Ein Licht und eine Wärme, über die sie so reichlich verfügen, wenn wir sie mit unserer Erziehung nicht zum zeitweiligen Erlöschen bringen?

Rudolf Steiner sprach einmal vom »religiösen Zug«, der die ganze Waldorfpädagogik durchziehen sollte und hob auch die Bedeutung einer kindesgemäßen religiösen Erziehung für das gesamte Leben hervor. Das ist auch ein Weg, die Anlagen zum »Geistselbst« in dem Sinne zu hegen und zu pflegen, dass das Schillersche Ziel des »idealischen Menschen« mehr und mehr Wirklichkeit im sozialen Kontext werden kann.

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: Leben im Geiste der Anthroposophie – Eine Autobiografie, Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2015

Literatur: R. Steiner: Theosophie – Einführung in übersinnliche Welt-erkenntnis und Menschenbestimmung, GA 9; F. Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 4. Brief, Augsburg 1998; W. Nigg: Vier große Heilige, München 1964; N. Mandela: Der lange Weg zur Freiheit, Hamburg 2006/2007; A. El Sadat: Unterwegs zur Gerechtigkeit, Wien-München-Zürich-Innsbruck 1981