Die Sinne und das Ich des Menschen

Peter Loebell

Eine Orange. Ich sehe die pralle, leuchtend-farbige, runde Form, streiche über die kühle, genarbte Oberfläche. Beim Schälen spüre ich die elastisch zusammenhängende, leicht brüchige Struktur der weichen Schale und ein belebender Duft erfüllt den Raum. Kühler, etwas klebriger Saft tropft aus der Frucht. Ich genieße den süßen, leicht säuerlichen Geschmack. Wohlbefinden breitet sich in meinem Körper aus. Gleichzeitig nehme ich die gedämpften Stimmen von Gesprächen, die Geräusche vorbei fahrender Autos wahr.

Die Gegenstände und Erscheinungen meiner Umgebung nehme ich wahr, aber was ich beschreibe, sind Vorstellungen. Denn jedes Wort, das ich verwende, ruft im Leser Erinnerungen und vertraute Bilder wach. Die Empfindungen selbst lassen sich nur fassen, indem ich sie vorstelle.

Wahrnehmung mit allen Sinnen – selbstverständlich und rätselhaft zugleich. Selbstverständlich, weil mein Wahrnehmen stetig andauert, seitdem mir mein Leib die ersten Empfindungen vermittelt hat – noch vor meiner Geburt. Sehen, Hören und Tasten sind zum Zeitpunkt der Geburt schon weit entwickelt. An die meisten Wahrnehmungen kann ich mich nicht erinnern, viele sind mir nicht einmal bewusst geworden. Aber alles, was in mein Bewusstsein dringt, habe ich wahrgenommen: Bilder, Klänge, Gerüche, Geschmack, Wärme, Druck, Beschleunigung, meine Körperhaltung, Gleichgewicht. Selbst im Schlaf nehme ich wahr – wie könnte ich mich sonst an Träume erinnern und vom Wecker aufgeschreckt werden? Wahrnehmung ist mir, selbst wenn sie unter der Bewusstseinsschwelle geschieht, stets gegenwärtig.

Aber wer ist dieser Wahrnehmende? Das »Ich«, das Subjekt bildet das rätselhafte Zentrum aller Wahrnehmungen. »Der Mensch«, so heißt es bei Maurice Merleau-Ponty, »ist zur Welt, er erkennt sich allein in der Welt«. Ohne die Fülle meiner Wahrnehmungen wüsste ich nichts von meinem Sein. Jeder Mensch kann diese Erfahrung teilen, aber, indem ich sie selbst mache, setze ich meine Existenz immer voraus. Die Individualität ist »unhintergehbar«, wie der Philosoph Manfred Frank schreibt.

Wer denkt hier eigentlich?

Wenn ich versuche, die Gesetze der menschlichen Wahrnehmung zu erkennen, kann ich zu dem Ergebnis gelangen, dass alle Empfindungen und Gedanken auf die Er­regungsleitung von Nerven zurückzuführen seien. Ist das Subjekt also eine bloße Illusion, konstruiert aus den komplexen Mustern neuronaler Reize? Die Auffassung, dass es nicht Menschen, sondern Gehirne sind, die »wahrnehmen« und »denken«, hat sich durch die Neurowissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker im Alltags­bewusstsein verankert.

Der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs hat die Prämissen der kognitiven Neurowissenschaften analysiert und problematisiert. Er meint, dass sie sich von einem metaphysischen Realismus leiten ließen, in dem eine rein physikalisch beschreibbare, objektive materielle Welt vorausgesetzt werde. Diese Welt müsste auch die subjektive Erfahrung des menschlichen Beobachters in sich enthalten; andererseits können wir von dieser Welt aber nur durch diese Erfahrung etwas wissen. Woher weiß »ich«, dass »mein« Gehirn denkt, wenn »ich« (das denkende Subjekt) erst durch dieses Gehirn konstruiert würde?

Ich bin, daran kann es für mich keinen Zweifel geben, das reale Zentrum meiner Wahrnehmungen, und das muss wohl für jeden Menschen gleichermaßen gelten. Aber dieses »Ich« kann nicht das Ergebnis einer Sinneswahrnehmung sein: Ich weiß, dass ich bin, nicht weil ich mich mit meinem Körper identifiziere, sondern weil ich immer schon bin, wenn ich wahrnehme. Dieses Ich ist »zur Welt«, aber da ich mich als Subjekt von innen erfahre, gehört es selbst offenbar einer anderen, geistigen Welt an.

Deshalb ist es prinzipiell in der Lage, Übersinnliches wahrzunehmen, wie zum Beispiel mathematische Gesetzmäßig­keiten. Jeder Mensch kann zu der Einsicht gelangen: 2 mal 17 sind 34, oder: Die Winkelsumme in jedem ebenen Dreieck muss 180 Grad betragen. Diese Erkenntnisse sind weder vom Abzählen irgendwelcher Gegenstände abhängig, noch vom Zeichnen mit Bleistift und Lineal. Zahlen und geometrische Formen lassen sich durch sinnliche Vorgänge darstellen, sie selbst sind jedoch übersinnlich, genau so, wie die Gesetzmäßigkeiten, die unter ihnen gelten. Aber damit ich sie erkennen und durch mathematische Operationen verbinden kann, brauche ich die Erfahrung meines Leibes.

Schon vor über 40 Jahren wurde festgestellt, dass mangelnde visuell-räumliche Wahrnehmung und Verarbeitung (zum Beispiel beim Erfassen des Körperschemas) zu einer Rechenschwäche führen können. Rudolf Steiner führt bereits 1921 mathematische Fähigkeiten auf bestimmte Sinneserfahrungen zurück: »Wenn Sie den Menschen betrachten, so haben Sie ja die Gebiete gegeben, aus denen das Mathematische kommt: Es ist der Gleichgewichtssinn, es ist der Bewegungssinn«.

Das Beispiel der Mathematik zeigt: Übersinnliche Erkenntnisse beruhen offenbar auf der sinnlichen Wahrnehmung des eigenen Leibes. Die rätselhafte Verbindung der menschlichen Individualität zur sinnlichen Welt bildet daher 1909 den Ausgangspunkt der anthroposophischen Menschenkunde: »Der Anfang der Anthroposophie soll gemacht werden mit einer Betrachtung der menschlichen Sinne«. Unter »Sinn« versteht Steiner »alles dasjenige (…), was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist«.

Die sinnliche Wahrnehmung eröffnet dem Kind alle weiteren Entwicklungsmöglichkeiten: Sprechen, Denken, Lernen und die Erfahrung des eigenen Selbstes. Daher stellen Ausbildung und Pflege aller Sinne ein wesentliches Fundament der Waldorfpädagogik dar.

Zum Autor: Prof. Dr. Peter Loebell, Jahrgang 1955, Diplom-Soziologe, 1985 bis 1996 Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Eckernförde, ab 1996 Dozent für Anthropologie, Pädagogik und Klassenlehrermethodik an der Freien Hochschule Stuttgart. Promotion 2000 in Erziehungswissenschaft zum Thema »Lernen und Individualität«. Professur für Lernpsychologie und Schulentwicklung. Vorträge und Publikationen zu verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Themen. Verheiratet, 4 Kinder.

Literatur:

Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt/Main 1986 | Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2010 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 | Rudolf Steiner: Anthroposophie. Ein Fragment, Dornach 1980 | Ders.: Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist. Zweiter Teil. 11 Vorträge in Dornach 1921, Dornach 1991