Die Wahrnehmungsfähigkeit des Leibes. Der Gedankensinn

Peter Loebell

John Franklin, der Mann, der für alles die längste Zeit braucht, äußert sich als letzter: »Sie wissen jetzt, dass wir ihre Sprache nicht verstehen. Darum reden sie absichtlich Unsinn und lachen darüber. … Jetzt sahen alle sehr genau hin: es stimmte!«. John Franklin erlebt die Gedanken der Australier, ohne ihre Worte zu verstehen – so beschreibt es Sten Nadolny in seinem Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«.

Warum kann ein Mensch die Gedanken eines anderen wahrnehmen? Eine erste Annäherung erfahren wir, wenn wir die Absichten und Pläne eines anderen Menschen verstehen, während wir eine seiner Handlungen beobachten. Kinder lieben es zum Beispiel, einem Handwerker bei der Arbeit zuzusehen: Die Präzision, mit der ein Maurer Mörtel auf einen Stein klatscht und diesen dann exakt an die richtige Stelle auf die Mauer setzt, kann andächtiges Staunen hervorrufen. Der Zuschauer glaubt, den Vorgang gleichsam am eigenen Leib zu spüren. Es ist das System unserer Spiegelneuronen im Gehirn, mit dem wir die Intentionen und Erwartungen anderer Menschen in unserer Umgebung innerhalb von Sekunden erfassen. Diese Nervenzellen werden aktiv, wenn wir selbst eine zielgerichtete Aktion ausführen, aber auch, wenn wir die gleiche Handlung bei anderen beobachten. Dadurch ist es möglich, »die Bedeutung der beobachteten ›motorischen Ereignisse‹ zu entschlüsseln, sie also als Handlungen zu verstehen, wobei das Verstehen keiner Vermittlung durch Denken, Begriffe und/oder Sprache bedarf« (Rizzolatti, Sinigaglia).

Spiegelneuronen werden auch aktiv, wenn man sich eine Handlung nur vorstellt oder eine beobachtete Handlung imitiert. Auch der Gefühlsausdruck anderer Menschen wird »gespiegelt«. Dennoch ist fraglich, ob sich alle Phänomene der Empathie durch die Funktion dieser Neuronen erklären lassen. So ist zu bedenken, »dass Empathie im vollen Sinn einen ganzen Komplex von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühlen, Vorerfahrungen und Einbeziehung von Kontextrelevanzen umfasst, also eine affektiv-kognitive Gesamtaktivität, die sich sicher nicht mehr einzelnen, wie auch immer spezialisierten neuronalen Systemen zuschreiben lässt« (Fuchs).

Wie wir uns in andere hineindenken

Mit dem Begriff der »affektiv-kognitiven Gesamtaktivität«, mit der wir in der Lage wären, das Denken eines anderen Menschen sinnlich zu erfassen, kommen wir dem von Rudolf Steiner sogenannten »Gedankensinn« schon sehr nahe. Diesen Sinn betätigen wir, wenn wir das Denken anderer Menschen durch die Worte hindurch verstehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Humor. »Eine Familie verbringt den Mittag mit dem Ruderboot auf dem See draußen. Dort trinken sie und essen eine Menge Brote und Früchte. Da meint Fritzli: ›Jetzt muss ich aber aufhören zu essen, sonst geht noch das Boot unter‹.« Diesen Witz verstehen Kinder in der ersten Klasse und auch viele Drittklässler noch nicht, weil ihnen ein Verständnis für das Konzept der Mengeninvarianz fehlt.

Ältere Kinder erfassen das Komische an einer Situation, geben humorvolle Kommentare und erfinden eigene Witze. »Kinder spielen lustvoll mit der Logik und den Inhalten der Sprache und verletzen durch Umdeutungen und Verzerrungen, durch Übertreibungen, durch Kombinieren von Unvereinbarem, durch Basteleien und Collagen die Regeln der Sprache, sei es durch eigene Schöpfungen, sei es durch die Übernahme von Vorgaben« (Popp). Versuche ich die eigene Denktätigkeit zu beobachten, bemerke ich, dass meine Gedanken unräumlich erscheinen. Ich kann sie erzeugen, bewegen oder verändern. Es gelingt nur schwer, sie zu unterdrücken, denn die Gedanken entstehen meist von selbst; wie lebendige Wesen können sie plötzlich auftauchen, sich weiten, zusammenziehen oder verhärten, reifen oder fruchtbar sein. Der Mediziner Hans Jürgen Scheurle bezeichnet diesen Vorgang als »geistig-plastische Aktivität«. Das gezielte Hervorbringen eigener Denktätigkeit ist demgegenüber viel schwieriger. Die Wahrnehmung fremder Gedanken aber entsteht durch eine innere, lebendige und schöpferische Aktivität, durch die ich die Denktätigkeit des anderen unter Verzicht auf eigene Vorstellungen nachahme. Dieser Vorgang lässt sich offenbar nicht auf eine bestimmte Körperregion, auch nicht auf das Gehirn begrenzen. »Man kann lediglich den Leib als Ganzes, das heißt, die gesamte Vitalsphäre, unter den Bedingungen des Wachzustandes, als das gesuchte Sinnesorgan bezeichnen« (Scheurle).

Unsere Lebensvorgänge nehmen wir als das eigene leibliche Befinden durch den »Lebenssinn« oder »Vitalsinn« (Steiner) wahr. Er ruft im gesunden Leib ein elementares Lebensgefühl hervor, und »nur die Einbettung in das basale Selbstempfinden erlaubt es mir überhaupt, irgendeinen Gedanken als den meinen zu denken, und ermöglicht den Zusammenhalt meines subjektiven Erlebens« (Fuchs). Das heißt, das Lebensgefüge meines Leibes bildet die Grundlage für den Gedankensinn, also für die Wahrnehmung des Denkens anderer Menschen. Durch das Bewegen, Verwandeln, Zusammenfügen oder Gliedern der Begriffe ahme ich die Gedankenbildung meines Gegenübers nach. Wenn man diesen Zusammenhang ernst nimmt, wird man in der Erziehung versuchen, die Lebenskräfte und den Vitalsinn der Kinder zu stärken. In der Schule können wir sie darüber hinaus anregen, die eigene Denktätigkeit durch gezielte Übung immer differenzierter zu erfahren. Und schließlich können wir ihnen durch die Pflege der Langsamkeit Zeit geben, um der Denkbewegung ihrer Mitschüler und Lehrer folgen zu können.

Literatur:

Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2010; Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1990; Walter Popp: Humor und Sprachwitz, in: Reinhard Fatke (Hrsg.): Ausdrucksformen des Kinderlebens, Bad Heilbrunn 1994; Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt am Main 2008; Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre, Stuttgart, New York 1984.