Geschmack und Geruch: ungleiche Geschwister

Peter Loebell

Schriftsteller schreiben vom »Salz des Lebens«, ein kleines Kind nennen wir »süß«. Im Märchen erfahren wir aber auch, dass »bittere Tränen« geweint werden, und »die dicke Trine« sagt zum »faulen Heinz«: »Warum sollen wir uns das Leben ohne Not sauer machen und unsere beste Jugend verkümmern?«

Die vier Geschmacksrichtungen, die von den Sinneszellen der Zunge unterschieden werden können, vermitteln so elementare Erfahrungen, dass sie als Allegorien für das seelische Erleben von jedem Menschen sofort verstanden werden. Mit der Qualität des Süßen verbindet sich eine wärmeartige, lösende Empfindung, die den Menschen seelisch öffnet und weitet. Säure wirkt ebenfalls auflösend, aber darüber hinaus auch zersetzend, während das Bittere eine zusammenziehende, verdichtende Qualität besitzt. Kochsalz verstärkt – in maßvoller Dosierung – das eigene Aroma einer Speise; andere Salze können, im Übermaß verwendet, einen sauren oder bitteren Beigeschmack haben.

Der Geschmackssinn steht in einem starken Zusammenhang mit der Verdauung, denn bereits die bloße Geschmacksempfindung regt die Tätigkeit der Speicheldrüsen, des Magens und die Sekretion des Gallensaftes in der Leber an. Schmecken können wir aber nur Substanzen, die bereits durch die Speichelflüssigkeit aufgelöst wurden. In flüssigem Zustand berühren sie die Geschmacksknospen mit den sogenannten Papillen, die sich beim Kind noch in der ganzen Mundhöhle, beim Erwachsenen dagegen fast ausschließlich auf der Zunge befinden. Obwohl die meisten Geschmacksknospen auf alle vier Qualitäten sensibel reagieren, schmecken wir doch schwerpunktmäßig das Süße eher an der Zungenspitze, Säure und Salz mit dem mittleren Bereich und den bitteren Geschmack vor allem am Zungengrund; eine Verteilung, die dem Gegensatz von Lust und Unlust zu entsprechen scheint. Durch Lecken oder Bewegen der Zunge in der Mundhöhle wird das Geschmackserlebnis verstärkt.

Ein angenehmer Geschmack hat die Eigenschaft, starkes Begehren auszulösen. Deshalb bietet die Lebensmittelindustrie Produkte an, die diese Tendenz benutzen und verstärken. Da gibt es zum Beispiel Süßigkeiten, »insbesondere die kleinen Riegel, die die Kinder massenhaft am Kiosk kaufen: Ob sie aus Schokolade sind oder Nuss oder Honig oder was immer, sie schmecken nach nichts, außer dass sie süß sind (das heißt physiologisch, sie sprechen nur noch die – quasi-taube – Zunge an, so wie Salzgebäck eben nichts als salzig ist)« (Hoffmann-Axthelm). Es fehlt neben den Eigenschaften »süß« oder »salzig« das besondere Aroma einer Speise, das allerdings nicht mit dem Geschmackssinn, sondern vom Geruchssinn wahrgenommen wird. Mit geschlossener Nase können wir Sellerie nicht von einem Apfel oder einer rohen Kartoffel unterscheiden.

Es sind die feinen Eigenschaften der Substanzen, die Düfte von Kräutern und Gewürzen, die einem Nahrungsmittel seine einzigartige Qualität verleihen. Durch die Verbindung zwischen Mund und Nase gelangen Duftmoleküle an die 20 Millionen geruchsempfindlichen Sinneszellen (das »Riechepithel«) im oberen Teil der Nasenhöhle. Obwohl wir mehrere tausend Düfte unterscheiden können, haben wir für sie keine bestimmten Ausdrücke. Meist bezeichnen wir sie durch Assoziationen mit einer bestimmten Geruchsquelle als »nussig«, »orangenartig« oder »Zimt-Aroma«.

Aber wir riechen nicht nur, was wir essen. Vielmehr ist jeder Mensch überall von Gerüchen umgeben, die unmittelbar angenehm oder abstoßend wirken und Assoziationen oder Erinnerungen auslösen können. Vor allem in einer warmen Umgebung reichen wenige Duftmoleküle aus, damit wir wahrnehmen, dass etwas riecht (Wahrnehmungsschwelle). Etwa die zehnfache Konzentration des Duftstoffs in der Luft ist notwendig, damit wir auch die Geruchsquelle erkennen (Erkennungsschwelle). Obwohl uns viele Tiere (zum Beispiel Hunde) in der Leistungsfähigkeit ihres Geruchssinnes weit überlegen sind, können Menschen mit ihrer Nase sehr differenziert wahrnehmen. Das gilt bereits für Babys, die den Duft einer Windel, die ihre Mutter an der Brust getragen hat, erkennen und unruhig werden, wenn man ihnen auf diese Weise den Duft einer anderen Frau bietet. Mütter erkennen mit der Nase die Hemden ihrer Kinder. Und professionelle Weinprüfer können bis zu 100 Weine täglich durch ihr Aroma sicher beurteilen.

Gerüche sind mit Gefühlskomponenten verbunden, die durch bestimmte Erfahrungen ausgelöst werden. »Der Duft einer Speise, die jemandem einmal schlecht bekommen ist, kann lebenslänglich dafür sorgen, dass ihm bei ihrem Geruch schlecht wird. Die affektive Reaktion hängt auch vom physiologischen Zustand ab. Küchengeruch kann vor dem Essen angenehm und danach unangenehm sein« (von Campenhausen). Die affektive Wirkung von Gerüchen ist so stark, dass Menschen durch Düfte beeinflusst werden können. So ließen zum Beispiel japanische Unternehmen Duftstoffe in ihren Werkshallen verströmen, um die Leistung der Arbeitskräfte zu steigern: Morgens Zitrone (macht munter), mittags Rose (entspannt) und abends Holz (gibt neuen Schwung).

Zuwendung oder Abwehr können durch Gerüche ausgelöst werden. Wenn jemand einen anderen Menschen »nicht riechen kann«, wird damit gerade diese unwillkürliche Ablehnung ausgedrückt. Düfte sind aber auch eine intime Botschaft, die uns neben Wärme und Kälte, Farben, Formen und Klängen aus der Welt entgegenkommt. Sie erscheinen freilassend und vielleicht sogar »großmütig«, wie Rainer Maria Rilke es in seinem Gedicht über eine rosa Hortensie ausdrückt:

Dass sie für solches Rosa nichts verlangen.

Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?

Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,

wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?

Literatur: Christoph von Campenhausen: Die Sinne des Menschen. Einführung in die Psychophysik der Wahrnehmung, Stuttgart, New York 1993; Dieter Hoffmann-Axthelm: Sinnesarbeit. Nachdenken über Wahrnehmung, Frankfurt/M., New York 1987; Ernst-Michael Kranich: Der innere Mensch und sein Leib, Stuttgart 2003