Leben zwischen Polaritäten – der Astralleib

Florian Osswald

In seiner Darstellung des menschlichen Wesens ging Rudolf Steiner von Polaritäten aus: Antipathie – Sympathie und Aufwachen – Einschlafen. Er fordert dazu auf, die Polaritäten so aufeinander zu beziehen, dass ein Drittes als Ergebnis ihres Zusammenwirkens entsteht. Die Seele lebt in diesem Dritten und ist zugleich in beiden Polaritäten anwesend. Sie ist fortwährend in Bewegung und bildet sich immer neu. Das Seelenleben kann deshalb nur dynamisch begriffen werden. Die auffälligste Bewegung der Seele ist die zwischen der äußeren und der inneren Welt. Mit dem Begriff des »Seelischen« meinen wir zumeist das innere Leben des Menschen und vergessen dabei, dass damit gleichzeitig ein Außen entsteht, und damit eine Polarität begründet wird. In unserem Erleben treten die beiden Pole als Hingabe an die Welt und als Zu-mir-Kommen auf. Wir pendeln zwischen den beiden Zuständen wie beim Ein- und Ausatmen hin und her.

Die Suche nach einem Halt

Obwohl die Beweglichkeit eine zentrale Eigenschaft der Seele ist, sucht sie nach einem Halt, nach etwas Beständigem. Gibt es etwas in der Seele, das die Bewegungen nicht mitmacht, aber trotzdem an ihnen Anteil hat?

Die Frage, wo die Seele zwischen Einschlafen und Aufwachen weilt, kann hier weiterhelfen. Wie halten wir durch den Schlaf hindurch unsere Identität aufrecht? Die Beobachtung der Schwellen des Einschlafens und Aufwachens führt uns direkt zu einer der zentralen Fragen der Psychologie: Wir nehmen einen Bewusstseinswechsel wahr. Wir vergessen alles beim Einschlafen, aber beim Aufwachen erinnern wir uns wieder. Vergessen und Erinnern spielen eine wichtige Rolle beim Lernen. Ebenso die »Nachtpause«. Doch wissen wir, was sich dort abspielt? Wir können uns selbst eine Beobachtungsaufgabe stellen, indem wir uns fragen: Wie gehe ich in den Schlaf und wie wache ich auf? So werden wir zu Nachtforschern, studieren damit Lernvorgänge und verstehen sie besser. Gleichzeitig kommen wir dem Teil der Seele näher, der unsere Identität trägt. Wir geben diesem Erlebnis den Namen Ich. Das Ich lebt in der Nacht, es ist uns im Alltag nur als Ich-Bewusstsein vertraut, als Gewissheit, dass es das Beständige gibt.

Die Polarität von Leib und Geist

Die Polarität von Leib und Geist, mit der Seele als verbindender Mitte, ist uralt. Viele Menschen haben versucht, sie zu verstehen und ihre Gedanken füllen Bibliotheken. Auch im Werk Steiners nimmt sie eine Schlüsselstellung ein. Er gründet seinen pädagogischen Impuls auf ihrer Existenz, ist es doch die Aufgabe der Erzieher, die Seele mit Leib und Geist in Einklang zu bringen. In der atmenden Bewegung zwischen Innen und Außen und in der Harmonisierung von Geist und Leib finden wir die Urbewegungen der Seele. Und wir müssen uns fragen, ob wir ihnen in unseren erzieherischen und schulischen Tätigkeiten gerecht werden. Atmet der Unterricht, das Familienleben? Sind inkarnierende und exkarnierende Tätigkeiten in Harmonie?

Der Leib der Seele

Für die Entwicklung des Menschen ist noch eine weitere Tatsache von großer Bedeutung. Steiner spricht davon, dass die Seele beim Kind noch »eingehüllt« ist. Gegen Ende der Kindheit muss diese Hülle verlassen werden. Die Seele muss, genauso wie der physische Körper, selbstständig werden. Wir können uns diesen Vorgang wie eine Schwangerschaft mit einer abschließenden Geburt vorstellen.

Steiner nannte die Seele oft »Astralleib«. Was wissen wir über die »Schwangerschaft« dieses Seelen- oder Astralleibes? Der Begriff »Leib« weist auf etwas Eigenständiges hin, über das wir – bis zu einem gewissen Grade – verfügen können. Wir haben die Möglichkeit, das Seelenleben selber zu gestalten. Aber wir müssen zuerst lernen, damit umzugehen. Vergessen wir nicht, wie viel Anstrengung notwendig ist, bis das Kind den physischen Leib betätigen kann. Es lernt zu krabbeln, aufrecht zu stehen und macht endlich die ersten Schritte. Das ist aber noch nicht das Ende. Mit dem physischen Körper sinnvoll, liebevoll und maßvoll umzugehen, stellt sich als eine lebenslange Aufgabe heraus.

Pubertät heißt das seelische Ego finden

Beim Seelenleib hat die Phase des Aufstehens und Gehenlernens auch einen Namen: Pubertät. Die seelische Aufrechte, die Eingliederung in die Welt des Geistes und der Erde und das seelische Gehen, das Atmen zwischen innen und außen, muss bewusst erlernt und erarbeitet werden. Kein Wunder, fühlen sich die Jugendlichen ausgesetzt, aber nicht nur ausgesetzt in einer physischen Welt, nein, ausgesetzt in der Welt der Gefühle, in einer Welt des Herzens. Dieses Ausgesetztsein fordert den jungen Menschen zur Eigenaktivität auf, und in ihr zeigt sich das Wesen, das da geboren wurde. Der Astralleib ist ein Egoist. Ego ist. Legen wir die persönlichen Begierden und Wünsche in ihn, wird er seine egoistischen Tendenzen ausleben. Die heutige Umwelt unterstützt mit großem Aufwand dieses Bestreben. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die kranke Seele heute fast bekannter ist als die gesunde.

Wärmendes Weltinteresse

Ganz anders können die Kräfte der Seele genutzt werden, wenn wir nicht persönliche Interessen, sondern Weltinteressen mit ihnen verbinden. Interesse bewirkt immer eine Überwindung des Egoismus und ist damit der Schlüssel zur Entwicklung des Seelischen. Doch wir wollen uns keinen Illusionen hingeben. Ein Blick in die heutige Welt zeigt, dass hier noch viel Arbeit vor uns liegt. Denn auf den Höhen des Herzens gilt es, Eiseskälte und Einsamkeit auszuhalten, das letzte Gehöft der Gefühle zu verlassen und nur noch Steingrund vor sich zu sehen. Der Egoismus ist eine starke Antriebskraft, aber er gibt keine Wärme. Erst wenn wir uns für den Anderen öffnen, kann sie uns finden. Das persönliche Interesse ist Weltinteresse geworden. Und die jungen Menschen erleben, was Rilke in seinem Gedicht leise anschlägt: »Und der große geborgene Vogel / kreist um der Gipfel reine Verweigerung. Aber ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens …«

Zum Autor: Florian Osswald ist Leiter der Pädagogischen Sektion des Goetheanum in Dornach.

Literatur: Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde, GA 293, Vortrag vom 22. August 1919; ders.: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie, GA 73, Vortrag vom 10. Oktober 1918