Lob des Scheiterns

Philip Kovce

Viele Ratgeber raten, wie man immer alles richtig macht – sogar, wie man »richtig« scheitert. Diese Beschreibungen neigen dazu, das Scheitern nicht wirklich ernst zu nehmen; sie empfehlen, es zu vermeiden. Dabei gerät ganz außer Acht, dass Scheitern grundlegend für jeden Bildungsprozess ist: Nur das, was mir zum Problem und Rätsel wird, worüber ich staune und mich wundere, kann mir zum Anlass und zur Aufgabe werden, die Welt zu verstehen. So gesehen, leben wir in verständnislosen Zeiten.

Natürlich: Selten gab es mehr Krisen als heute – und tagtäglich drohen neue. Doch all die Krisen, Skandale und Sensationen, die unser Bewusstsein in Beschlag nehmen, führen zu jenen Zuständen, in denen wir von der Welt nichts, aber auch gar nichts mehr lernen. Wem die Krise nichts als bloß eine Krise ist – für den liegt die Lösung darin, achselzuckend so schnell wie möglich so weiterzumachen wie bisher. Kein Problem, keine Lösung. Es ist also dringend geboten, dass wir uns wieder handfeste Probleme zumuten. Solche, die sich nicht durch Zahlenschiebereien vertuschen oder nebenbei zerreden lassen, sondern die uns Einhalt gebieten: Ich weiß weder ein noch aus! Wie soll es jetzt bloß weitergehen?

Jeder ist für seine Probleme selbst verantwortlich – im besten Sinne. Kultiviere ich meinen Weltbezug so, dass ich mir zutraue, Probleme zu meistern, so wird es überhaupt erst möglich, dass ich in der Welt etwas bewirken, sie verändern, ja vielleicht sogar verbessern kann. Dass sich die Krisen heutzutage mehren, weist gerade nicht darauf hin, dass die Probleme, die wir uns zumuten, zunehmen – sondern dass wir uns viel zu wenig zutrauen: Wo der Wille zum Problem fehlt, wird die Krise zur Routine. Sie ist Ausdruck missachteter Probleme.

Scheitern als Stolpern

Wenn hier ein Lob des Scheiterns angestimmt wird, geht es nicht darum, dass möglichst wenig gelingt – sondern darum, jene Schwelle zu beschreiben, ohne die überhaupt nichts gelingen kann. Dafür gilt es, den Begriff des Scheiterns moralisch abzurüsten. Dann wird deutlich, dass ohne Scheitern sich nichts zum Guten wendet. Denn jedes Phänomen, das aufhört, selbstverständlich und fraglos für sich zu sein, wird für mich zum Problem – zum Gegenstand, der meine Aufmerksamkeit, meine Zuwendung, mein Verständnis fordert – und von mir verlangt, nach seinen eigenen Gesetzen angeschaut zu werden. Das Ende der Selbstverständlichkeit ist der Beginn des Scheiterns. Das Scheitern ist der Beginn der Verständlichkeit, die ich mir selbst erringe und durch die ich mich bilde. Sie erlöst mich von falschen Vorstellungen, die ich mir eingebildet, und von der Ignoranz, die ich mir zugestanden habe. Das Bild im Museum, die Blume im Wald, die Bildung des Menschen – es ist möglich, sich für das alles nicht zu interessieren. Doch sobald es mit dem interesselosen Missfallen vorbei ist, sobald mir diese Phänomene des Blickes würdig, des Bedenkens wert sind, fordern sie von mir, von mir abzusehen und auf sie einzugehen. Ich habe mich gewissermaßen aufzugeben, um in den Phänomenen aufzugehen. Ich erhalte mich zurück als derjenige, der auf der Schwelle zum anderen gestolpert ist – zum Glück! Ohne Stolpern keine Schwelle. Ohne Schwelle kein Scheitern. Ohne Scheitern kein Gelingen.

Gescheiterte Existenz?

Ein Leben kann darin bestehen, an Schwellen auszuharren – also eine »gescheiterte« Existenz zu führen. Christian Morgenstern, dessen 100. Todestages dieses Jahr gedacht wird, schreibt 1895 dazu: »Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der Hecke des Paradieses vorbei. Dann streift mich warmer Hauch, dann mein’ ich, Rosen zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu Tränen, auf der Stirn liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand – sekundenlang. So streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses …« Nicht ins Paradies einfallen, sondern es streifen. Welch wunderbares Bild für einen Kenner der Schwelle, einen, der unentwegt an der Heimkehr scheitert – als Bewusstseinstat. Niemand kennt das Paradies besser als jener Läufer, der es immer und immer wieder umkreist, wie Morgenstern es schildert. Im Laufe seiner Runden erkennt und formuliert er 1907 schließlich: »Wir sind nie wirklich aus dem Paradiese vertrieben worden. Wir leben und weben mitten im Paradiese wie je, wir sind selbst Paradies, – nur seiner unbewusst, und damit mitten im – Inferno.«

Wer scheitert, wächst

Scheitern will gelernt sein. Es erfordert, nicht alles für selbstverständlich zu halten und nicht aufzugeben, wenn nicht sogleich verständlich wird, was ich mir zur Aufgabe gemacht habe. Überhaupt ist das die hohe Kunst: Die Aufgabe zu finden, die auf einen wartet – die erwartet, durch mich gelöst, erlöst zu werden. Ohne Aufgabe kein Scheitern – ohne Treue zu ihr kein Gelingen. Denn nur, wenn ich ein beständiges Rätsel nicht als Verweigerung der Aufgabe deute, sich mir erkenntlich zu zeigen, habe ich Ausdauer, Mut und Kraft, ihr beizustehen – ja dann ist es die als meine erkannte Aufgabe, die mir Kraftquell wird. Meine Aufgabe führt mich zu ihr – und zu mir.

»Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht«, schreibt Morgenstern. In diesem »allerersten« Sehen (das nicht das erste von hundert Malen, sondern immer wieder das »allererste« Mal ist) erfüllt sich die Aufgabe – sie löst sich nicht auf, sondern sie erweist sich als die richtige, als die meine. Ihre Schwellen werden mir lieb. Ich kann mit ihr und für sie in der Welt wirken. Bildung ist nicht bloß eine Schwellenerfahrung, sondern Schwellenarbeit. Die Bedingung der Schwellenarbeit ist das Scheitern. Es wird durch das Gelingen nicht aus der Welt geschafft, sondern neu ermöglicht. Wer scheitert, wächst. Daran wächst die Welt. So bildet sich der Mensch – und durch ihn die Welt.

Zum Autor: Philip Kovce ist freier Autor und Mitwirkender am Basler Philosophicum. Jüngst erschienen seine Sammlung »An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen« sowie sein »Versuch über den Versucher« (beide AQUINarte Literatur- & Kunstpresse).