Menschenbildung durch Mathematik

Renatus Ziegler

Mathematik kommt im Kulturleben der Gegenwart unter verschiedenen Gesichtspunkten eine große Bedeutung zu. Sie liegt vielen Errungenschaften der modernen Zivilisation zugrunde: der Computertomographie und GPS-Navigation, Verkehrsleitsystemen, Risikoberechnungen für Versicherungen, der Netzwerksteuerung, dem Computerchip-Design und der Programmiertechnik. Sie wird nach wie vor als Schlüsselkompetenz vieler Berufsausbildungen angesehen. Daraus kann eine Rechtfertigung für das Schulfach Mathematik abgeleitet werden: Sie kann angewendet werden, sie fördert konzeptionelles, strukturiertes und konsequentes Denken, sie ist berufsrelevant und erhöht die Chancen, eine angemessene Berufsanstellung zu erreichen und eine Karriere zu machen. Mit dem Kriterium der Anwendbarkeit kommt man allerdings im Schulunterricht in Erklärungsnot: Der Schulstoff ist in der Regel zu trivial oder zu weltfremd, um brauchbar zu sein.

Oder liegt vielleicht der hauptsächliche Wert der Mathematik ganz woanders? Denn Mathematik kann dem menschlichen Leben und seiner individuellen Entwicklung dienen, vorausgesetzt sie wird in erster Linie um ihrer selbst willen unterrichtet, mit einer »Rechtfertigung«, die an ihre eigenen Qualitäten anknüpft und mit einem Lebensbezug, der sich am Menschen als Ganzem orientiert.

Mathematik spricht den ganzen Menschen an

Eine Vorbedingung ist: Mathematik wird mit Hingabe zur Sache unterrichtet, aus Begeisterung für ihre Eigenart, zum Beispiel: Klarheit, Überschaubarkeit, Ordnung und Konsequenz. Entscheidend ist jedoch, dass im Mathematik-Unterricht der ganze Mensch angesprochen wird und nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten – und das nicht nur in der Grundschule, sondern bis hin zum Abitur. Es sind vielleicht nicht alle Gebiete des traditionellen Mathematikunterrichts gleich gut geeignet, allgemein menschliche Eigenschaften wie Phantasie, Freude, Körperbeherrschung, intensive Gefühle, das Bedürfnis nach Klarheit und ästhetisches Empfinden direkt anzusprechen. Aber je mehr in dieser Richtung geschieht, um so weniger wird die leidige Frage »Wozu kann ich das alles brauchen?« auftauchen.

Lässt man sich etwa ein auf einen Kreis mit der Bestimmung als Ort aller Punkte einer Ebene, die von einem Punkt derselben gleich weit entfernt sind, so fühlt man sich gleich zentriert, geordnet. Es ist alles geklärt: Mittelpunkt, Abstand, Peripherie als Grenze von Innen und Außen. Die Konstruktion einzelner Punkte erübrigt sich, man kann einen Zirkel verwenden.

Ein ganz anderes Formerlebnis stellt sich ein, wenn die Orte der Lotfußpunkte X aus einem Punkt R auf die Geraden eines zweiten Punktes S gesucht werden (Figur 1), oder die Orte X gleichbleibender Abstandsquotienten bezüglich zweier Punkte R und S (Figur 2).

Figur 1

Figur 2

Welche Überraschung, welches Staunen, wenn nach der exakten Durchführung der Konstruktionen für mehr als jeweils 12 Punkte in beiden Fällen ein kreisförmiges Gebilde auftaucht (Thaleskreis bzw. Divisionskreis). Die Freude steigert und vertieft sich, wenn auch noch durch klare gedankliche Ordnung der Entstehungsbedingungen der verschiedenen Gebilde eingesehen wird, dass sie alle untereinander äquivalent sind: Es sind verschiedene Gesichtspunkte auf ein und dasselbe: den Kreis.

Was bei solchen Beispielen trägt, ist die Begeisterung und Phantasie der Lehrpersonen – und, wie immer: mehr das Wie als das Was.

Werden im Mathematikunterricht Elemente der Körperbeherrschung geübt wie rhythmisches Klatschen der Zahlenreihen, exaktes Zeichnen und Skizzieren, so bleiben die Fähigkeiten der Körperführung nicht bloß eine Domäne des Sport- und Gymnastikunterrichts. Entscheidend ist, dass durchschaute und frei gewählte Ideen das Handeln initiieren und begleiten. Je mehr es gelingt, auch im Mathematik-Unterricht starke Gefühle anwesend sein zu lassen oder zu fördern, wie Freude, Überraschung, Befriedigung, Schönheit, Harmonie, Ordnung, Klarheit, je mehr gewinnt die Mathematik Bedeutung für das Gemüt. Denn nur selten hat man die Gelegenheit, im Alltag große Gefühle an konkreten und klar durchschauten Ideen, an  frei errungenen und zweckfreien Produkten des Denkens und Handelns zu erleben: Die Mathematik, wo mit schwierigen Problemen gerungen wird und die mit plötzlichen und überraschenden Einsichten aufwartet, macht das möglich.

Dass Mathematik auch soziale Fähigkeiten fördern kann, indem man gemeinsam an Problemen arbeitet, sei nur nebenbei erwähnt. »Hochbegabung« kann sich auch als Fähigkeit ausdrücken, anderen etwas beizubringen.

Dem begrifflichen Denken mit seinen unterschiedlichen Gesichtspunkten des Urteilens, des Hierarchisierens von Begriffen, des Schließens, des Beweisens, der Vorstellungsbildung und der exakten Variation von Vorstellungen kommt  in der Mathematik eine besondere Rolle zu. Ohne klares Denken kann kein standfestes und entwicklungsfähiges Selbstbewusstsein erübt und verwirklicht werden. Und ist es nicht wunderbar, wie Mathematik zeigen kann, dass Phantasie, Offenheit, Unvoreingenommenheit für Neues und Ungewöhnliches wie die Handhabung des Unendlichen in Analysis, Mengenlehre und Geometrie sowie Grenzziehungen bei Definitionen und Grenzüberschreitungen bei Erweiterungen von Definitionen, nicht im Widerspruch stehen zu logischer Exaktheit, begrifflicher Bestimmtheit, ideeller Klarheit und Übersichtlichkeit?

Wenn es also gelingt, die Mathematik ins Leben und Leben in die Mathematik zu bringen – und einem entsprechenden Mathematikunterricht Raum, Zeit und Material gegeben wird –, dann wird sie zu einem Teil der umfassenden Menschwerdung unserer Kinder. Sie wird zu einer Unternehmung mit Beteiligung des Denkens, Fühlens und Wollens. Durch ihre schöpferische und phantasievolle Komponente wird sie zu einer Schlüsselkompetenz der Selbstständigkeit, der Selbstbestimmung und damit zur Grundlage eines starken Selbstwertgefühls.

Auch in der Mathematik kann ich etwas aus reiner Hingabe an die Sache tun – ohne Zweck, ohne Hintergedanken. Ich kann frei gestalten – bin produktiver Künstler und Ideenbildner zugleich.

Zum Autor: Dr. Renatus Ziegler ist Mathematiker und Physiker, arbeitet im Verein für Krebsforschung in Arlesheim und ist Mitwirkender am Philosophicum in Basel.