Musik als Menschenschule

Peter Dellbrügger

Lässt sich an musikalischen Qualitäten und Prozessen etwas ablesen, was für soziale Fähigkeiten gleichermaßen gilt? Nicht Trivialanalogien sind hier gemeint, die ein Team als Orchester beschreiben, die Chefin als Dirigentin und einzelne Abteilungen als Stimmgruppen, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: Wer darin geübt ist, sich selbst regelmäßig beim Spielen und Üben eines Instrumentes zuzuhören, wer darüber hinaus in einem Kammermusikensemble oder Orchester gleichzeitig sowohl den Klang des eigenen Instruments als auch den Gesamtklang zu verfolgen vermag – wie wirkt sich dessen musikalisches Hören auf seine soziale Fähigkeit des Zuhörens aus?

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Grundfähigkeit des Übens, des bewussten und intentionalen Fähigkeitserwerbs, die sich wohl nirgends so deutlich zeigt wie beim Musiker – hier lässt sich wunderbar veranschaulichen, was es bedeutet, sich selbst zu führen. Schon das Erlernen eines Instruments geschieht auf paradoxe Art und Weise durch das immer und immer wiederholte Tun von etwas, was man noch nicht kann. Und irgendwann geht es dann, irgendwann wird das gekonnt, was lange und geduldig und nicht immer zur Freude des sozialen Umfelds erübt wurde.

Auf was muss beim Üben nicht alles geachtet werden! Schon auf die äußeren Bedingungen wie Ort und Zeit, dann Häufigkeit und Ziel des Übens, selbstkritische Rückschau (was wurde erreicht?) und Vorschau (was sind die nächsten Schritte?), die ungeheure Disziplin beim Verfolgen eines Zieles, das sich aber nicht zu einer fixen Vorstellung verselbstständigen darf, sondern in realistischer Selbsteinschätzung einer ständigen Überprüfung unterzogen werden muss: Ist das Ziel zu hoch gesteckt? Zu niedrig? Fehlt ein Zwischenziel? Ferner eine intensivierte Selbstwahrnehmung, auch in Bezug auf physische Abläufe und den Körper – etwa die richtige Haltung beim Geigenspiel.

Dazu kommt die Fähigkeit, komplexe Abläufe gleichzeitig zu beherrschen, wie beim Klavierspiel die Koordination der linken und rechten Hand, sowie der Pedale mit den Füßen, das Lesen und Umblättern der Noten, das selbstkritische Hören des eigenen Spiels, um sich sofort zu korrigieren und gleichzeitig auch noch volle Aufmerksamkeit für einen Kammermusikpartner. Dass solches instrumentales Üben über den Bereich des Geübten hinaus Früchte zeigt, liegt auf der Hand, und wir brauchen nicht erst die Hirnforschung, um bestätigt zu finden, dass Musik den ganzen Menschen erfasst, dass es sich überaus positiv auf das Verhalten, auf die Lern- und Selbstführungsfähigkeiten des Menschen auswirkt.

Als der Komponist Zoltán Kodály 1951 in Ungarn Schulen mit erweitertem Musikunterricht ins Leben rief, formulierte er sein Anliegen so: »Diese hundert Schulen sind keine Musikschulen, sondern Menschenschulen. Der Mensch ist ohne Musik nicht vollständig, sondern nur ein Fragment.« An diesen Schulen fand wohlgemerkt täglicher Musikunterricht statt, auf Kosten von anderen Fächern. Infolge der täglichen Beschäftigung mit der Musik waren die Leistungen der Schüler in allen Fächern signifikant besser als an anderen Schulen. Im Rückblick fasste Kodály die Erfahrungen zusammen, die bei dem Experiment gemacht wurden – das übrigens in der Schweiz von 1988-1991 mit ähnlich positiven Ergebnissen wiederholt wurde: »Wir wissen, dass eine tägliche Beschäftigung mit der Musik den Geist so erfrischt, dass er dann für alle anderen Gegenstände mehr Empfänglichkeit zeigt«. Und wenn Yehudi Menuhin im Geleitwort zu »Musik macht Schule« schreibt: »Mit ›Musik macht Schule‹ wird endlich die Musik als Teil der allgemeinen Bildung und als Beitrag zur Rettung des Menschen anerkannt …«, so berührt er damit eine tiefere Ebene: Musik als Hilfe, das bedrohte Menschsein zu retten.

Zweifelsohne kann schon ein oberflächlicher Blick auf die Folgen gesteigerter und vereinseitigter Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche zeigen, dass heute ganz elementare menschliche Fähigkeiten bedroht sind: Fähigkeiten wie die, sich über einen längeren Zeitraum konzentriert einer Sache zu widmen, »an einer Sache dran zu bleiben«, oder sich kritisch selbst wahrzunehmen, auch im Hinblick auf seelische Stimmungen und Gefühlslagen, die beim Spielen eines Instrumentes zum Ausdruck gebracht und dadurch mit Bewusstsein durchdrungen, und nicht nur passiv-erlebend konsumiert werden.

Die Dimension der Selbsterfahrung anhand der Musik kann mit Peter Bieri als poetische Bildung bezeichnet werden. Dabei gilt es, ein Missverständnis gleich auszuräumen: Musikalische Bildung besteht nicht im Anhäufen von Wissen über Musik, sondern im Leben in der Erfahrung der Musik! Wie es der große Dirigent Sergiu Celibidache treffend formulierte: »Wer beim Rasieren ›Hänschen klein‹ pfeift, hat mehr mit Musik zu tun, als einer, der sich eine Beethovenplatte auflegt.«

Nicht umsonst endet Robert Schumann seine Musikalischen Haus- und Lebensregeln mit dem lakonischen Satz: »Des Lernens kein Ende«. Man kann dies getrost auch so lesen: Des Übens kein Ende. Der Mensch zeigt sich, gerade in der Bedrohung seines Menschseins, als denkbar un­vollkommen – aber eben dadurch auch als freiheitsfähig, denn er hat die Möglichkeit, ein Leben lang zu üben. –

»Wir sollten mehr auf die Musik hören« (Stefan Brotbeck).

Zum Autor: Peter Dellbrügger ist selbstständiger Unternehmensberater, Musiker und Mitwirkender am Philosophicum Basel und am Hardenberg Institut Heidelberg.

Link: www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/bessere-manager-dank-neuer-musik