Phänomenologische Chemie im Unterricht

Dirk Rohde

Winterzeit. In der Natur herrscht tiefe Ruhe, es ist kalt, Schnee fällt und deckt sanft die Erde zu. Welche Jahreszeit könnte besser zu Salzen passen? Ihr Ausfallen aus der Lösung, die Entstehung schöner Kristallformen, wie sie auch das Eis draußen zeigt. Man holt geradezu die Vorgänge der Jahreszeit ins Labor, wenn sich in einem geschickt beleuchteten Rundkolben funkelnde Kristalle in einer transparenten Lösung bilden und langsam zu Boden sinken. Solche Erscheinungen gilt es als Ausgangspunkt ruhig und konzentriert kennenzulernen, exakt mit allen Sinnen zu beobachten, möglichst offen und unvoreingenommen, auch staunend und innerlich berührt, wenn Experimente unerwartete und/oder schöne Eigenarten zeigen. Dann findet eine innere Verbindung mit den Phänomenen statt, die tragfähig ist. Diese müssen dabei so gut gewählt, geordnet und zur Entfaltung gebracht werden, dass sie sich gegenseitig ergänzen und erhellen. Alle Beobachtungen müssen so präzise möglich sein, dass sich kausale Zusammenhänge daraus ableiten lassen.

Die Epochalisierung des Unterrichts bietet hierzu eine Fülle unschätzbarer Vorteile: Durch die Konzentration auf wenige Wochen kann man thematische Schwerpunkte auf die Jahreszeit abstimmen. Man kann die Phänomene im Unterricht zunächst als solche würdigen und bis zum nächsten Morgen ruhen lassen, bevor die zugrunde liegenden Kausalitäten mit dadurch gereifterem Verständnis aufgeklärt werden. Es gibt genügend »Luft« für das exakte Protokollieren. Man kann exemplarisch vorgehen, indem man anhand einzelner Beispiele das gesamte Thema in aller erdenklichen Breite und Tiefe erkundet. Und man kann alle Erklärungen genetisch entwickeln, das heißt hier so, wie der Erkenntnisprozess im Laufe der Menschheitsgeschichte vorangeschritten und wie er deshalb oft auch der Denkentwicklung der Schüler angemessen ist.

In der Salz-Epoche wird dem Kochsalz mit seiner immensen Bedeutung für den Menschen ein zentraler Platz eingeräumt. Jeder Schüler kennt es und hat darüber stets die Möglichkeit, einen Einstieg in das Unterrichtsgeschehen zu finden. Von hier aus lässt sich der Salzbegriff leicht erweitern, indem man das Lösen und Kristallisieren auch bei anderen Salzen verfolgt – gegebenenfalls auch bei anderen Stoffen, die im Epochenverlauf dann von Salzen zu unterscheiden sind. Schülerversuche zur Kristallzucht bieten sich an, besonders mit farbigen Salzen wie dem Kupfervitriol. Mit dem Ermitteln von Lösungskurven kann man einen ersten Mathematisierungsschritt erreichen, und über das Quellen, Schrumpfen und Konservieren organischer Substanzen lassen sich physiologische Bezüge herstellen.

So gehen wir zunächst vom Salz als einem Ganzen aus, bevor wir es durch Hitze zu laugenbildender Asche und säurebildendem Gas – oft nach vorheriger Abscheidung von Kristallwasser – zerstören. Sinnvoll ist es, diesen Weg über die Begegnung mit einigen wichtigen Laugen und Säuren bis zu den Ausgangselementen zu verfolgen, womit man auf das Gegensatzpaar rostendes Metall – brennendes Nichtmetall stößt. Von dort aus kann man den Bogen dann mit der Erzeugung neuer Salze wieder schließen, was der inhaltlichen Epochen-Struktur eine zugleich offene und geschlossene Form gibt.

Wissenschaftsgeschichtlich bewegen wir uns damit in der Chemie des beginnenden 19. Jahrhunderts. In der 7. bis 9. Klasse haben wir uns durch die vorhergehenden Zeiten dieser Phase in großen Schritten genähert, und in den folgenden Jahren werden wir bis zu den wichtigen Neuerungen der heutigen Chemie vorstoßen. Auch ohne nähere Ausführungen dazu lässt sich aus dem Bisherigen der jeweils dazugehörige Epochenaufbau leicht finden, weil die grundlegenden Prinzipien dieselben sind.

Die Formelschrift wird dementsprechend oft erst ab der 11. Klasse behandelt. Zum kausalen Verständnis der Phänomene benötigt man sie nicht, sie ist ja nicht Ursache, sondern eine Folgerung aus Beobachtungen von Reaktionsverläufen. Vorbereitend setzen wir in den vorhergehenden Jahren Wortgleichungen ein und thematisieren dabei auftretende quantitative Aspekte. Man wird möglicherweise in der 10. Klasse schon erste elektrochemische Erscheinungen berühren und einzelne Setzungen vornehmen, etwa den Begriff »Ion« oder erste Formeln wie »H2O«. Die komplexe Erarbeitung des Begriffes »Element« wird aber erst danach stattfinden, zugleich mit dem Atombegriff, der Radioaktivität in der Physik, der Zellenlehre in der Biologie, kurz: wenn die Frage nach der jeweils kleinsten sinnvollen Einheit auftaucht. Dadurch können sich die Schüler allen sich daraus ergebenden Abkürzungen (wie den chemischen Formelschreibweisen) und Hypothesen (wie dem Atomaufbau) mit selbstständigerem Verständnis und damit freier gegenüberstellen. Keinesfalls versäumen sollte man, stets ein möglichst starkes Gewicht auf Schülerexperimente und auf praktische Bezüge zu legen, etwa in der 10. Klasse: Was genau macht Streusalz, und wie ermittelt man experimentell das optimale? Oder: Warum müssen wir Kochsalz essen, was geschieht damit in uns, und wie finden wir das heraus?

Zu solchen konkreten Themen und Tätigkeiten können sich Schüler oft viel intensiver ins Verhältnis setzen, als zu Abstraktionen. Haben sie aber erst mal eine gute Grundlage, können sie sich Abstraktionen viel leichter und schneller erarbeiten. So paradox es klingt: Vorzeitiges Abstrahieren in der Mittelstufe – orientiert an leblosen Prozessen, Stein auf Stein – führt nicht etwa zu einem besseren Verständnis in der oberen Oberstufe, sondern behindert es tendenziell. Lernen und Verstehen sind organische Prozesse, die lebendig wachsen und sich entfalten. Diese Erkenntnis beginnt sich aktuell allgemein durchzusetzen. Der Chemie-Unterricht der Waldorfschule versucht seinen Beitrag dabei zu leisten.

Zum Autor: Dr. Dirk Rohde ist Chemielehrer an der Freien Waldorfschule Marburg