Sehen trennt, Hören vereint

Peter Loebell

Farben rufen Gefühle wach, obwohl uns die Augen Bilder einer Wirklichkeit vermitteln, die weit entfernt liegen kann. Kein anderer Sinn führt unsere Wahrnehmung so weit über die Grenzen des eigenen Körpers hinaus. Und obwohl wir von den sichtbaren Farben emotional beeinflusst werden, gilt ein visueller Eindruck als besonders verlässlich und objektiv. Was ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat, ist Grundlage seiner Überzeugung. Sehen schafft Distanz durch das Wahrnehmen einer Oberfläche. Mit unseren Augen erkennen wir die Außenseite der Dinge. Selbst den eigenen Körper sehen wir – etwa vor dem Spiegel – von außen. Aber der Sehsinn scheint nicht nur das Subjekt vom Objekt zu trennen, er lässt uns auch die sichtbaren Dinge unterscheiden und gliedert den Seh-Raum in eine Vielzahl einzelner Gegenstände. Ganz anders sind die Empfindungen, die uns das Hören vermittelt: Alle Klänge, Geräusche und einzelnen Töne, die an das menschliche Ohr dringen, verbinden sich zu einer Einheit. Zwar lassen sich die einzelnen Instrumentengruppen eines Orchesters unterscheiden, aber die musikalische Wirkung ergibt sich gerade aus dem Zusammenhören. Das gilt auch für jene Instrumente, deren Klänge stets aus einer Vielfalt von Tönen bestehen, wobei die akustischen Eigenschaften des Raumes ihnen noch eine besondere Stimmung verleihen. Auch die eigene Stimme hören wir von innen, weil die Stofflichkeit des eigenen Körpers sie in einer Weise tingiert, die so nur von dem Sprecher selbst wahrgenommen werden kann.

Sehen und Hören: Zwei Sinne, die uns so unterschiedliche Wahrnehmungen vermitteln, dass Rudolf Steiner sagt, ihre Zusammenfassung in eine »allgemeine Sinneslehre« sei graue Theorie. Und in einem Buch über »Sinnesarbeit« heißt es: »Die Sehleistung ist also der Inbegriff der extrovertierten aktiven Sinnestätigkeit. … Nur das Sehen trennt zwischen Dingen. Abgetrennte Einheiten und Zwischenräume kennt auch das Hören, aber da werden Laute getrennt oder Wörter. Die eindrucksvolle Macht des Hörens stellt sich erst über den Umweg des Sprechens und Denkens her.«

So verschieden wie die Sinnesempfindungen sind auch die entsprechenden Organe. Das Auge – »vom Licht für das Licht gebildet« (Goethe) – ist das einzige Organ, in dem Nervenerregungen durch Photorezeptoren, also lichtempfindliche Zellen, ausgelöst werden. Nach dem Prinzip einer Camera Obscura lässt die Pupille das äußere Licht in den dunklen Innenraum des Augapfels fallen. Aber wir können die Augen auch vor der Welt verschließen oder durch unsere Blicke Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Denn die geöffneten Augen bleiben niemals passiv. Jeder Mensch blickt die Gegenstände seiner Umgebung aktiv an, indem er die Augäpfel ruckartig hin und her bewegt. Wir tasten mit den Augen unser Gegenüber ab. Art und Abfolge dieser Blickbewegungen sind ein Ausdruck der seelischen Aktivität, mit der wir uns dem Gesehenen zuwenden.

Auch das Ohr ist zur Umgebung geöffnet. Aber die Anordnung und die Unbeweglichkeit der Ohrmuscheln lassen erkennen, dass wir uns mit unserem Hörorgan keinem Gegenüber zuwenden, sondern den akustischen Eindruck aus dem gesamten Raum aufnehmen. Die Luftbewegungen, die unsere auditiven Wahrnehmungen auslösen, werden auf äußerst komplizierte Weise bis zu den Sinnesrezeptoren übertragen. Zunächst wird die wellenförmige Luftschwingung durch die Ohrmuschel zum äußeren Gehörgang geleitet. An dessen Ende gerät das Trommelfell in eine schwingende Bewegung, die durch drei winzige Knochen im Mittelohr auf die Membran des »ovalen Fensters« übertragen wird. Durch das ovale Fenster wird die Flüssigkeit in dem schneckenförmigen Innenohr in rhythmische Bewegung versetzt. Diese »Cochlea« hat von der Basis bis zur Spitze nur eine Länge von 4 bis 4,5 mm und ruht im härtesten Knochen des menschlichen Leibes, dem »Felsenbein«. Der mit Perilymphe gefüllte äußere Schneckengang grenzt auf seiner gesamten Länge durch eine feine Haut an einen inneren Kanal, der ebenfalls mit einer Flüssigkeit gefüllt ist; in diesem Kanal ist nochmals eine winzige Ausstülpung abgetrennt, in der haarartige Sinneszellen durch die Schwingungen der Flüssigkeit in feinste Bewegung versetzt werden.

Wie das Hörorgan den äußeren Reiz tief in das Innere des menschlichen Schädels überträgt, so vermittelt auch die akustische Empfindung des Hörenden eine Wahrnehmung der inneren Qualität von Gegenständen. Seien es der Klang von Materialien, menschliche Stimmen oder die besonderen akustischen Eigenschaften eines Musikinstruments.

Der Cellist Pablo Casals schreibt in seiner Autobiographie über einen Musiker, dessen Konzert er im Alter von elf Jahren hörte: »Als ich sein Cello erblickte, war ich fasziniert; noch nie hatte ich so etwas gesehen. Als dann der erste Ton aufklang, war ich vollends überwältigt; es war, als ob mir die Luft wegbliebe.

Dieser Cello-Klang hatte etwas so Zartes, Schönes, Menschliches, ja, so Menschliches an sich. Nie zuvor hatte ich solch schönen Ton vernommen. Glanz erfüllte mich.« Es war ein Hörerlebnis, das sein Leben verändern sollte.

Literatur:

Pablo Casals: Licht und Schatten auf einem langen Weg. Erinnerungen, Frankfurt/Main 1994. Dieter Hoffmann-Axthelm: Sinnesarbeit, Frankfurt/Main, New York 1987. Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293) Dornach 1992.

Johann Wolfgang von Goethe: Werke Band XIII, Naturwissenschaftliche Schriften, Hamburg 1966