Von Ge-Schichte und Kopfzünglern. Goethe im Klassenzimmer

Claus-Peter Röh

»… dass ein Blitz riecht!«

Die große Pause hat begonnen. Umgeben vom Trubel und Spiel unzähliger Schüler steht ein Erstklässler ganz still und starrt sinnend in die aufziehenden Wolken. Als sich ein Kollege der Aufsicht neben ihn stellt, sagt der Junge, noch immer in die Wolken blickend: »Na, – da wird sich aber gleich etwas zusammendrehen.« – Er hat es vor allen bemerkt. Fünfzehn Minuten später entlädt sich ein solch mächtiges Gewitter, dass viele Schüler beim einsetzenden Wolkenbruch nur mit Not das schützende Dach erreichen. Den Naturgewalten trotzend bleibt ein Schüler der 6. Klasse draußen stehen. Durchnässt und verspätet betritt er den Klassenraum mit den Worten: »Ich wusste nicht, dass ein Blitz riecht!« Monate später, bei den Versuchen zur elektrischen Ladung in der ersten Physik-Epoche, lebt die Erinnerung an jenes Phänomen des »riechenden Blitzes« wieder auf. Die Freude, den Naturerscheinungen unmittelbar zu begegnen, finden wir in vielfältiger Weise von Goethe beschrieben:

»Mir ist nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch, kein Bild gibt. Die Sache ist, dass ich wieder Interesse an der Welt nehme, meinen Beobachtungsgeist versuche und prüfe …« (Italienische Reise). Gerade dieses Erwachen an den Erscheinungen der Welt führt auch im Unterricht zu einer Tiefe des Interesses, das neue Sichtweisen und neue Verständnisebenen erschließt. Das rein gedankliche Verstehen von Zusammenhängen korrigiert sich an Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Diese wiederum regen zu neuen Gedanken an. Goethe beschreibt diese Wechselwirkung mit folgenden Worten: »Wer sich zum Gesetz macht, … das Tun am Denken, das Denken am Tun zu prüfen, der kann nicht irren, und irrt er, so wird er sich bald auf den rechten Weg zurückfinden« (Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 9. Kapitel).

Eine 4. Klasse geht als Abschluss der ersten Heimatkunde-Epoche auf die »große Stadtwanderung«. In der Altstadt blockiert eine neue Baustelle den Weg. Als ein Bagger gerade eine Grube freilegt, sind an der Abbruchkante verschiedene Erdschichten zu erkennen. Schon ruft eine Schülerin: »Da sieht man ja deutlich die beiden Brandstellen!« Alle verharren schweigend im Staunen. Es scheint für einen Augenblick, als lebten die Brände, die in der aus Holz gebauten Stadt damals wüteten, wieder auf. Als am nächsten Tag die Kinder jenes Bild der Erdschichten in ihr Heft malen, sagt plötzlich ein Schüler: »Jetzt verstehe ich endlich, warum das Wort ›Ge-Schichte‹ heißt.«

Ein Leichnam ist nicht das ganze Tier

Die Naturkunde-Epochen an der Waldorfschule sind geprägt von dem Ziel, den heranwachsenden Menschen ein möglichst reiches, ganzheitliches Verständnis des Lebendigen zu ermöglichen. Gelingt es uns als Erziehern, durch unsere Schilderungen mit der Entdeckungsfreude auch Ehrfurcht und Achtung vor dem Leben der Natur in den Schülern zu wecken, dann haben sie später im Umgang mit naturwissenschaftlichen Fakten ein reiches inneres Fundament, um diese wieder neu in ein Ganzes zu denken. Gerade für das Erfassen des organischen Lebens in seinen Metamorphosen gibt die Anschauung Goethes entscheidende methodische Ansätze. Schon 1770 schreibt er in einem Brief zum Schmetterling: »Das arme Tier zittert in seinem Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da. Der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, … ein hauptsächliches Hauptstück: das Leben« (Brief Goethes vom 14. Juli 1770).

Die erste Tierkunde der 4. Klasse beginnt mit der Schilderung des Lebens. Aus innerer Aktivität können die Schüler sich dabei mit der Lebensweise und der Gestalt eines Tieres verbinden. Der Beginn eines Aufsatzes aus der 4. Klasse ist ein Beispiel für diese innere Verbindung: »Am Tage versteckt er sich im Boden des Meeres. Man sieht nur seine Augen. Sein Rücken hat die Farbe wie der Sand. Wenn er Hunger hat und gerade ein Krebs aus den Steinen kommt, macht er es folgendermaßen: Der Krebs geht auf ihn zu, der Tintenfisch wird aufgeregt und sein Rücken wird bunt, also die Farben bewegen sich ganz schnell auf seinem Rücken. Wenn der Krebs in Fangweite ist, wirft der Tintenfisch seine acht Fangarme aus und die saugen sich an ihm fest. Der Tintenfisch verspeist den Krebs genüsslich.«

Folgt auf der Grundlage der Lebensweise im nächsten Schritt die charakterisierende Herstellung von Beziehungen, so ist den Kindern der Name »Kopffüßler« (Cephalopodes) für die Tintenfische unmittelbar verständlich. Allerdings bemerkte eine Schülerin, dass es doch eigentlich »Kopfzüngler« heißen müsse.

Haben die Schüler in den nachfolgenden Naturkunde-, Physik- und Chemie-Epochen der Mittelstufe diese entdeckende, charakterisierende Phänomenologie durchlebt, können sie in der Oberstufe den Begriff des Lebens mit der Wissenschaftlichkeit neu zusammendenken: Innere geistige Lebenskräfte prägen sich aus in äußeren organischen Formen, die im einzelnen Wesen, aber auch im großen Naturzusammenhang eine Ganzheit bilden. Die Fähigkeit, Einzelnes im Ganzen zu denken, führte Goethe zur Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen. In seinem Gedicht »Epirrhema« heißt es: »Müsset im Naturbetrachten immer eins wie alles achten: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; denn was innen, das ist außen …«

Beim Studium des Skelettes in der Biologie der 9. Klasse kann das zum Beispiel zur Aufgabe führen, die Metamorphosen im Knochenbau des Menschen mit dem eines höheren Wirbeltieres ins Verhältnis zu setzen. Eine hohe innere Beweglichkeit ist hier gefordert, und es ist beeindruckend, wie die Jugendlichen ihre eigenen Ansätze, Entdeckungen und Darstellungen entwickeln.

Zum Autor: Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.