Wozu Kulturunterricht?

Valentin Wember

Rudolf Steiner scheint der erste gewesen zu sein, der ausdrücklich eine goetheanistische Kulturwissenschaft in scharfer Abgrenzung zur goetheanistischen Naturwissenschaft nicht nur gefordert, sondern zugleich in den Grundzügen skizziert hat, nämlich bereits 1886 in seiner Schrift »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung«. Die ebenso knappen wie fundamentalen Ausführungen des 25-jährigen Steiner finden sich unter der Überschrift: »Die Geisteswissenschaften«. Dort heißt es: »Die Organik ist die höchste Form der Naturwissenschaft. Was noch darüber ist, sind die Geisteswissenschaften. Diese fordern ein wesentlich anderes Verhalten des Menschengeistes zum Objekte als die Naturwissenschaften.«

Für Steiner ist also klar: Man kann die Vorgehensweise, die Goethe beim Erforschen der Natur angewendet hat, nicht eins zu eins auf die Kulturwissenschaften übertragen.

Der Unterschied scheint zunächst fast trivial zu sein: In den Kulturwissenschaften »hat es unser Bewusstsein mit geistigem Inhalt selbst zu tun: mit dem einzelnen Menschengeist, mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit den aufeinander folgenden wissenschaftlichen Überzeugungen, mit den Schöpfungen der Kunst«.

Der zunächst simple Unterschied liegt also darin, dass bei den Kulturwissenschaften im Forschungsobjekt selbst bereits eine ideelle Gestalt erscheint, die bei einem Naturobjekt immer erst freigelegt werden muss. Aber daraus leitet sich eine erhebliche Konsequenz ab: »Die Wissenschaft hat hier (nämlich der Kultur gegenüber; V.W.) eine andere Sendung zu erfüllen als der Natur gegenüber.«

Worin besteht diese andere Aufgabe und »Sendung«, die die Wissenschaft gegenüber der Kultur hat?

Das Ergebnis von Steiners Untersuchung in den »Grundlinien« lautet: Es geht darum zu verstehen, wo ich selbst als Kulturschaffender ansetzen will. Das ist allerdings weit entfernt von dem, was man heute unter »Bildung« versteht: Laut Steiner liegt die Mission der Kulturwissenschaften in ihrer Bedeutung für das Schöpferische in jedem Menschen, in ihrer Bedeutung für die Ich-Findung. Der Mensch will »den Punkt finden, um an dem Getriebe der (Kultur)-Welt teilzunehmen«. Und dazu muss er die Kulturwelt »kennen, um nach dieser Erkenntnis seinen Anteil an derselben zu bestimmen«.

Man ahnt nun, warum Steiner Aberhunderte von Theateraufführungen besucht hat, warum er Tausende von Büchern gelesen und besprochen hat, warum er ungezählte europäische Museen und Konzerte besucht hat: Neben dem ästhetischen Genuss ging es ihm darum, den Punkt zu finden, an dem er selbst als Kulturschaffender ansetzen konnte. In den Ausstellungen und TV-Sendungen zu Steiners 150-jährigem Geburtstag wurde eindrucksvoll deutlich, wie intensiv und originell Steiner in der Kultur gestaltend eingegriffen hat.

Was bedeutet das nun für den Unterricht kulturwissenschaftlicher Fächer?

Wollte man die Antwort auf diese Frage der Form nach in eine innere Ansprache an die Schülerinnen und Schüler bringen, könnte diese folgendermaßen lauten: »Liebe Schülerinnen und Schüler, wir wollen verstehen, was Homer und Dante, was Shakespeare und Goethe, was Hosseini und Mouawad gemacht haben. Wir wollen so viel wie nur irgend möglich kennen und verstehen, damit ihr euch immer mehr dessen bewusst werdet, was ihr selber machen wollt und auf welche Weise der eine oder die andere von euch sich in das Leben einschalten will.« In zwei Sätzen:

Wir wollen lernen, um die Kulturwelt zu verstehen.

Wir wollen lernen, damit ihr an der Welt arbeiten könnt.

Das heißt: Nicht nur begreifen, was mich ergreift, sondern begreifen, was ich ergreifen will.

Es geht also in erster Linie beim Goetheanismus in den sogenannten »Humanities« gar nicht so sehr um irgendwelche Methoden und Deutungstechniken, sondern es geht zunächst einmal um das Bewusstsein des übergeordneten Ziels. Dieses Ziel ist die kulturelle Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler. Es geht darum, dass die Schülerinnen und Schüler ihre ureigene Mission im Leben entdecken können. Darum, dass sie Zwiesprache halten können mit den Impulsen und Motiven anderer Menschen in Geschichte, Literatur und Kunst, um – dadurch angeregt – sich selbst zu finden, oder, mit den Worten Goethes, bei denen ich nur das Wort »Künstler« durch das Wort »Schüler« ersetze: »Wenn irgendeine spekulative Bemühung (theoretische Literatur-, Kunst- oder Geschichtsbetrachtung; V.W.) nützen soll, dann muss sie den Schüler grade angehen, seinem natürlichen Feuer Luft machen, dass es um sich greife und sich tätig erweise. Denn um den Schüler allein ist’s zu tun, dass der keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Tätigkeit.« Vor vielen Jahren kam ich spät abends nach einer Theaterprobe in der Schulküche beim Abwaschen des Geschirrs mit einem Schüler ins Gespräch.

»Was wollen Sie nach der Schule machen?«

»Wenn es klappt, möchte ich Medizin studieren und dann zu Médecins Sans Frontières gehen.«

»Und wie sind Sie darauf gekommen?«

»Es klingt vielleicht komisch, aber Sie werden es verstehen: Ich möchte ein moderner Artus-Ritter werden, der zwischen den Kulturen vermittelt. Meine einzige Sorge ist, ob ich das auch wirklich auf den Boden bekomme.«

Dieser Schüler muss in echtem, innerem Gespräch mit Wolframs »Parzival« gestanden haben. Und was er dort gelesen, empfunden und durchdacht hat, ließ ihn – wie Steiner in den »Grundlinien« schreibt – den Punkt finden, um an dem Getriebe der Welt teilzunehmen, um nach dieser Erkenntnis seinen Anteil an derselben zu bestimmen.

Literatur:

Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 1979, GA 2 | Johann Wolfgang von Goethe: Rezension von J.G. Sulzers Buch »Die Schönen Künste«. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. München 1973. Band 12