Zwei ungleiche Geschwister. Sensualismus und Materialismus

Mario Betti

Nun kommt der Sensualismus mit seiner Botschaft und erzählt, dass wir ohne Augen weder Form noch Farbe sehen würden und dass ohne Ohr die Welt für uns stumm bliebe. Infolgedessen müssen wir uns um alle Sinne kümmern und um die entsprechenden neurophysiologischen Prozesse, wenn wir genau wissen wollen, wie die Welt auf uns wirkt.

Demnach wären beide Seiten: das Phänomen, das sich den Sinnen darbietet und die Antwort des jeweiligen Sinnes, sei es ein Geruch oder eine Farbempfindung, wie zwei Hälften einer Kugel, das heißt, die zwei Hälften der sinnenfälligen Wirklichkeit, als Ganzheit gesehen.

Nicht nur geisteswissenschaftlich-anthropologische Untersuchungen bestätigen diesen Tatbestand (Selg 2000), sondern auch die einfache, logische, naturphilosophische Überlegung, dass wir Menschen nicht getrennte Teile der Welt sind, sondern deren Bestandteil. Denn alle sinnenfälligen Komponenten sind in beiden »Hälften« vorhanden: Festes, Flüssiges, Luftiges und auch Wärme. Evolutionär gesehen, heißt es, dass wir mit, an und in der Weltentwicklung gewachsen sind.

Kann also Anlass bestehen, einseitig zu behaupten, dass »unsere Augen (uns) betrügen« (Stuttgarter Zeitung 2006) und, dass wir nie wissen können, ob die Welt »wirklich so ist« (ebd.), und alles das, wie es bei diesen beiden Zitaten der Fall ist, Kindern zu erzählen und damit schon etwas von ihrem Urvertrauen in die Welt zu erschüttern? Denn Kinder müssen das Gefühl ausbilden, in einer richtigen Welt zu leben und nicht in einer allein vom Gehirn vermittelten »Scheinwelt«. An diesem Beispiel ist wichtig zu klären, wann eine bestimmte Weltanschauung entsteht, denn jeder Mensch weiß selbstverständlich, dass wir Sinne brauchen, um überhaupt etwas in der Welt zu erleben. Aber nicht jeder macht eine Philosophie daraus. Spätestens jedoch in dem Augenblick, in dem wir eine Aussage über Wahrheit oder Irrtum, über Objektivität oder Subjektivität einer bestimmten Tatsache machen, entsteht ein Denk-Urteil, das zu einer bestimmten Weltanschauung gehört. In diesem Fall zum Sensualismus.

Der Sensualist kann sich mit dem Phänomenalisten im besten Einklang befinden, oder ihn, geblendet vom eigenen Subjektivismus, zum geistigen Duell auffordern. Und wenn ein eingefleischter, ebenfalls einseitig ausgebildeter Materialist hinzu käme und behaupten würde, dass der ganze Kosmos aus Materie besteht, und dass nur eine materialistische Weltanschauung die richtige sein kann, dann dürfte das Gespräch sehr heiß werden.

Fassen wir das potenzielle Problem kurz zusammen. Der Phänomenalist sagt: Ich habe die volle Wahrheit, denn der Kosmos offenbart sie mir in jedem Augenblick. Der Sensualist behauptet: Das stimmt nicht, denn das Gehirn bestimmt, was Du siehst und hörst und insofern ist die ganze Welt lediglich ein Produkt unserer Subjektivität. Schließlich entgegnet der Materialist, dass nur die Materie, also die Erforschung ihrer Gesetze Anspruch hat, zu bestimmen, was

der Kosmos ist und wie er funktioniert. Der Materialist hat natürlich insofern recht, als wir tatsächlich in einer materiellen Welt mit ihren Gesetzen leben. Aber das ist auch nur eine Seite der allumfassenden Wirklichkeit. Denn bereits die nächste Weltanschauung, der Mathematismus, rüttelt an der Ausschließlichkeit materialistischer Statements und erst recht der Spiritualismus, der in das Gebiet des Religiösen hereinragt. Nun aber sind unsere Vertreter der ersten drei Weltanschauungen seelisch offene, sozialverträgliche und geistig aktive Zeitgenossen und einigen sich. Sie verfassen eine Resolution:

Das All, im Großen wie im Kleinen, ist eine objektive Wirklichkeit, die mir der natürliche, gesunde Gebrauch aller Sinne in ihrem wahren Wesen offenbart. Das Ganze, wie auch das Leben auf der Erde, ist aber nur möglich, dank eines rätselhaft-allgegenwärtigen »materiellen« Mediums als Substrat der ganzen Schöpfung, als Daseinsgrund für ihre Phänomenalität, für ihre Sensualität und für ihre Dinglichkeit.

So einfach ist das, wenn sich keine Weltanschauung anheischig macht, die volle Wahrheit zu vertreten. Während ich das schreibe, fällt mir eine Stelle aus einem sehr anregenden Buch des Kulturkritikers und Medienwissenschaftlers Neil Postman (1995) ein: »Erzieher können sich leicht in unnötige Schwierigkeiten verwickeln, wenn sie eine taktlose und nicht zu rechtfertigende Position zum Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und religiösen Erzählungen beziehen. Das ist zum Beispiel am Konflikt um die Evolutionslehre gut nachzuvollziehen. Einige Lehrer, die meinen, das Gewissen der Wissenschaft zu repräsentieren, handeln so ähnlich wie jene Parlamentarier, die 1925 die Lehre der Evolution in Tennessee gesetzlich verboten. In dem damaligen Fall fürchteten die Anti-Evolutionisten, dass eine wissenschaftliche Idee einen religiösen Glauben untergraben könnte. Heute scheinen viele Menschen, die an die Evolutionslehre glauben, zu fürchten, dass eine religiöse Idee einen wissenschaftlichen Glauben untergraben könnte … Der entscheidende Punkt ist aber, dass einander widersprechende Ideen durchaus nebeneinander bestehen können, wenn sie aus verschiedenem Stoff gemacht sind und unterschiedliche Methoden und Ziele haben.

Jede von ihnen sagt uns etwas Wichtiges darüber, wie wir im Universum existieren, und es wäre töricht, darauf zu beharren, dass sie einander ausschließen müssen.«

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar.

Literatur: Peter Selg, Vom Logos menschlicher Physis – Die Entfaltung einer anthroposophischen Humanphysiologie im Werk Rudolf Steiners, Dornach/Schweiz 2000; Bericht aus der »Kinder-Uni« in der Stuttgarter Zeitung vom 10. November 2006; Neil Postman, Keine Götter mehr – das Ende der Erziehung, München 1995