Zwischen Auflösen und Zentrieren: Der Wärmesinn

Peter Loebell

In der Kälte zieht sich der Mensch unwillkürlich zusammen, zentriert und verfestigt sich, um die Wärme im Inneren des Leibes zu bewahren. Als ebenso lebensbedrohend erfährt der Europäer die Gluthitze der afrikanischen Wüste. »Es war, als habe ein Riese irgendwo im Südwesten eine ungeheure Ofentür aufgestoßen. Der Gluthauch traf uns um die Mittagsstunde, und die ersten leichten Windstöße waren so heiß und trocken, dass wir ein paar Mal stehenblieben und nach Luft schnappten wie Karpfen, die man ans Ufer geworfen hat«, schildert der in die namibische Wüste geflüchtete Geologe Henno Martin.

Die Hitze gibt uns ein Gefühl der Auflösung; indem die innere Wärme des Leibes auszufließen scheint, wird das Bewusstsein zu einem traumartigen Dösen abgedämpft.

Das menschliche Ich sucht fortwährend nach einer gesunden, als angenehm empfundenen Verbindung zu seinem Körper. Man könnte auch sagen: Das Ich lebt in der Wärme des physischen Leibes, die wir ständig selbst erzeugen und erhalten. Deshalb muss sich ein Mensch im klirrenden Frost der Arktis ununterbrochen bewegen; in der Hitze Afrikas wird er dagegen jede überflüssige Regung vermeiden. Die Wärmewahrnehmung ist dabei für ihn das wichtigste Instrument. »Temperatursinn« wird diese Modalität in der Neurophysiologie genannt. An bis zu zehn Kaltpunkten und nur einem Warmpunkt pro Quadratzentimeter Haut (im Gesicht und an den Extremitäten) werden freie Nervenendigungen erregt; an anderen Teilen der Körperoberfläche liegen die Kalt- und Warmpunkte erheblich weiter auseinander. Aber was wir wahrnehmen, ist nicht die Temperatur unserer Umgebung, sondern das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Wärme. Das lässt sich an dem bekannten Dreischalenversuch zeigen. Dabei hält eine Versuchsperson ihre rechte und linke Hand zunächst gleichzeitig in zwei Schalen mit unterschiedlich erwärmtem Wasser (zum Beispiel links 27° und rechts 37°). Danach taucht sie beide Hände in eine dritte Schale mit lauwarmem Wasser von 32°; der linken Hand erscheint dieses nun warm, der rechten Hand dagegen kalt. Es scheint naheliegend, dass wir die Umwelt eben »subjektiv« wahrnehmen und dass nur Messgeräte geeignet sind, die »objektive« Temperatur zu erfassen. Aber: Ein Thermometer misst keine Wärme, sondern lediglich die Volumenveränderung einer physischen Substanz (zum Beispiel Quecksilber), die erwärmt oder abgekühlt wird.

Temperaturen lassen sich also nicht messen – und ebenso wenig empfinden. Ein Kind, das sich eine Beule am Kopf zugezogen hat, erfährt die Berührung mit einem Metallgegenstand (zum Beispiel einem Löffel) als angenehm kühl – unabhängig von dessen Temperatur. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer guten Wärmeleitfähigkeit des Metalls. Tatsächlich gleichen sich die Wärmezustände zweier Körper, die einander berühren, an. Aber eine Strömung von einem zum anderen Körper findet dabei nicht statt. Und ob die Außentemperatur Unbehagen verursacht, hängt stark von der eigenen Bewegung ab. Bei körperlicher Anstrengung wird eine kühlere Umgebung eher als angenehm empfunden als bei einer sitzenden Tätigkeit.

Es ist die besondere Dichte des Metalls im Gegensatz etwa zu Holz oder Wolle, die man bei dem Temperaturausgleich auf der Haut spürt. Diese Dichte wird gleichzeitig auch als Druck empfunden: »Legt man nacheinander eine sehr kalte Münze (ungefähr 5°) und zwei übereinanderliegende Münzen derselben Sorte (ungefähr 38°) auf die horizontal gehaltene Stirnfläche, so wird man die warmen Münzen leichter empfinden als die kalte Münze, obwohl letztere physikalisch gesehen nur halb soviel wiegt« (Basfeld). Das Zusammenziehende wird als schwerer, das sich Weitende als leichter erfahren; der Mensch empfindet also nicht Temperaturen, sondern die lösende Qualität der Wärme.

Andererseits nimmt die Kälteempfindung allmählich ab, wenn wir eine Hand in kaltes Wasser halten, dessen Temperatur konstant bleibt. Die Empfindung an der Körperoberfläche adaptiert nach kurzer Zeit die Temperatur, und bei extremen Wärme- oder Kältezuständen unter 20° oder über 40° lassen sich auch Temperaturveränderungen nicht mehr unterscheiden; wahrgenommen werden lediglich extreme Kälte oder Hitze.

So anpassungsfähig die Hautoberfläche innerhalb eines breiten Wärmespektrums sein mag, so empfindsam reagiert das Innere des physischen Leibes auf Temperaturschwankungen. Der »Wärmekern«, der das Innere der Leibeshöhle, der Brust und des Kopfes umfasst, wird stets auf einem Niveau von 37° konstant gehalten. Möglich ist dies durch innere Wärmesensoren im Zentralnervensystem und in tiefen Körpergeweben. Die Ausdehnung des Wärmekerns variiert allerdings in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur. »In warmer Umgebung dehnt er sich über den ganzen Leib aus bis kurz unter die Haut- oder Fettschicht. In kalter Umgebung zieht er sich ins Leibesinnere zurück … In warmer Umgebung weiten sich die Blutgefäße der Leibesperipherie, so dass die Wärme mit dem Blut aus dem Innern nach außen strömen kann. In kalter Umgebung verengen sie sich, so dass jetzt die Haut wie eine Isolierschicht wirkt« (Basfeld).

Durch den Wärmesinn nimmt der Mensch also einerseits an der Hautoberfläche die besondere Zusammensetzung eines Materials bei Raumtemperatur wahr. Andererseits empfinden wir durch die Angleichung der eigenen Körperwärme an die Umgebungstemperatur innerhalb eines gewissen Spektrums die Wärme oder Kälte eines Gegenstands und deren Veränderung. Doch vor allem erleben wir durch unsere Wärmeempfindung den Wechsel von Lösung und Verdichtung unseres geistig-seelischen Wesens im Leib.

Literatur:

Martin Basfeld: Wärme: Ur-Materie und Ich-Leib, Stuttgart 1998; Martin Henno: Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste, Winhoek 1984; Simon Eckhart: Wärmehaushalt und Temperaturregelung. In: Robert Schmidt; Gerhard Thews (Hrsg.): Physiologie des Menschen. Heidelberg 1995; Marie Tièche: Kinnvika 80° Nord. Eine Frau, ein Mann und die Einsamkeit der Polarnacht, München 2005