Die Heilkraft des Singens

Wolfgang Bossinger

Das Singen begleitet den Menschen seit den Ursprüngen seiner Kultur. Doch der Gesang ist noch viel älter als die Menschheit. In der Natur finden wir eine Vielzahl von Tierarten, die ebenfalls singen. Das Spektrum reicht vom Gesang der Grillen, Vögel und Gibbonaffen bis zu den Bewohnern der Meere wie Delfinen und Buckelwalen.

Wie Biologen zeigen konnten, singen Tiere, um ihre sozialen Bindungen zu stärken, vor allem bei der Werbung um Sozialpartner, in weniger schönen Varianten verteidigen sie damit ihr Revier oder schrecken Angreifer ab. Viel spricht dafür, dass das Singen auch bei den Vorfahren der Menschen und bei den frühen Menschen eine Rolle spielte.

Im Einklang mit der sozialen und kosmischen Ordnung

Auch bei heute noch existierenden Naturvölkern finden sich Rituale, die Gesang für die Förderung des Zusammenhalts und der Gemeinschaft nutzen. In vielen dieser Kulturen steht das Singen im Mittelpunkt des spirituellen und gemeinschaftlichen Lebens. Gesang und Musik begleiten wichtige gesellschaftliche Riten, die anlässlich von Geburten, Tod und Begräbnissen, Hochzeiten, Initiationen und Heilungszeremonien durchgeführt werden. Andere Riten dienen der Wiederherstellung der kosmischen Ordnung.

Ein Beispiel ist der Sängerwettstreit der Inuit – eine Art musikalische Gerichtsverhandlung. Die beiden Kontrahenten tragen ihren Konflikt aus, indem sie sich »singend« bekämpfen. Dazu werden Schmählieder unter Trommelbegleitung gesungen, in welchen die Gegner sich gegenseitig ihre Missetaten vorwerfen. Die Auseinandersetzung verläuft aber keineswegs todernst, sondern oft mit humorvoller – und vom Gelächter der Anwesenden begleiteter – Satire. Am Ende entscheiden die Zuhörer, wer der Gewinner ist.

Ein weiteres Beispiel findet sich bei den Mbutis, einem Pygmäen-Volk im Kongo. Die Mbutis müssen zusammenkommen und ein spezielles Gesangsritual abhalten, wenn Streit unter den Stammesmitgliedern ausbricht. Alle Mbutis müssen dann eine Nacht lang für »Mutter Wald«, eine Gottheit des Waldes, singen, um sie zu besänftigen.

Der gemeinsame Swing verbindet

Die Gehirnforschung hat herausgefunden, dass Erfahrungen sozialer Resonanz (Verbundenheit, Gemeinschaft, Liebe, Zugehörigkeit) äußerst wichtig sind, um Stress abzubauen und gesund zu bleiben. Solche Erfahrungen aktivieren das Belohnungssystem des Gehirns, verbunden mit der Ausschüttung eines regelrechten Cocktails gesundheitsfördernder Botenstoffe. Umgekehrt machen Erfahrungen sozialer Ausgrenzung maximalen Stress und aktivieren sogar die gleichen Schmerzareale im Gehirn, die sonst beim Erleben von physischem Schmerz aktiv sind.

Beim Singen schwingt sich eine Gruppe von Menschen aufeinander ein. Dies beginnt damit, dass wir gemeinsam atmen, die Emotionen der Musik miteinander teilen und uns rhythmisch synchron bewegen. Dabei entsteht ein starkes soziales Resonanzfeld in der Gruppe der Sängerinnen und Sänger. Der Chronomediziner Maximilian Moser von der Universität Graz konnte in Forschungen zusammen mit mir zeigen, dass sich beim Singen sogar unsere Körperrhythmen aufeinander einschwingen. Über den Atemrhythmus beim Singen werden auch die Rhythmen des Herzens und des Blutdrucks beeinflusst und kommen in Resonanz. Diese starke physiologische Synchronisierung macht verständlich, dass singende Menschen intensive Gefühle der Verbundenheit erleben können.

Besonders dann, wenn das Singen spielerisch mit Freude und ohne Leistungsdruck stattfindet, kann es zu »Flow«-Zuständen, dem völligen Aufgehen im gegenwärtigen Moment führen. Solche Flowzustände haben, wie Forschungen zeigen konnten, ein besonders hohes Potenzial, gesundheitsfördernde Prozesse in uns anzustoßen.

Wenn Menschen hingebungsvoll miteinander singen, können die Erfahrungen der Verbundenheit bis in transzendente Dimensionen reichen. Dies geschieht bei besonderen Formen des Singens, wie dem von Katharina Neubronner und mir entwickelten, heilsamen und gesundheitsfördernden Singen, aber auch beim Singen spiritueller Musik. Der schwedische Musikwissenschaftler Alf Gabrielson spricht im Hinblick auf solche Erfahrungen, die in Bereiche von Transzendenz und Spiritualität reichen, von »strong experiences with music«. Er fand eine Fülle von Belegen, dass diese heilsame Prozesse in Menschen anstoßen können.

Baby Talk

In Deutschland und in vielen westlichen Gesellschaften zeigt sich derzeit ein bedauernswerter Zerfall der Alltagskultur des Singens. Immer seltener wird zu Hause im Familienkreis gemeinsam gesungen. Selbst gesungene Wiegenlieder werden immer häufiger durch CDs ersetzt. Die Medien tragen zu diesem Kulturverfall bei, indem sie suggerieren, Musik sei nur etwas für Profis und Spezialisten. In Wirklichkeit war Musik über den größten Teil der Menschheitsgeschichte ein Kulturgut für alle. Gemeinsames Singen und Tanzen sind wichtige soziale Erfahrungen, die keinem Menschen verwehrt werden sollten. Entwicklungspsychologische Forschungen belegen immer deutlicher, wie wichtig für Babys und Kleinkinder Erfahrungen sozialer Resonanz und der Affektabstimmung sind. Diese finden in der Phase vor dem Spracherwerb und auch noch währenddessen vor allem durch einen feinfühligen lautmalerischen Dialog statt (sogenannter »Baby Talk« oder Ammensprache), einen einfühlsamen Singsang und emotionale Kommunikation über Klänge und Melodien und eben auch durch Wiegenlieder, Trostlieder, spontan gesungene Situationslieder und Kinderreime.

Durch Singen zu Mitgefühl und Gesundheit

Emotional und sozial vernachlässigte Kinder haben es später schwerer, soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz zu entwickeln, wenn nicht spätestens im Kindergarten und dann in der Schule mit ihnen musiziert wird. Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther spricht sogar davon, dass Singen »Kraftfutter für Kindergehirne« ist.

Anthroposophisch orientierte Schulen und Kindergärten haben erfreulicherweise immer schon einen Schwerpunkt auf die Förderung des Singens und der künstlerischen Bereiche gelegt und sie sind – wie jetzt die Gehirnforscher bestätigen – damit auf dem richtigen Weg. Das Musizieren und Singen mit Kindern hilft ihnen, Mitgefühl zu erlernen und beugt Gewalt vor. Es sollte daher an allen Schulen und Kindergärten in viel größerem Umfang geübt werden. In diesen Zusammenhang passt ein Zitat des früheren Innenministers Otto Schily gut: »Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit«.

Betrachten wir etwas genauer, welche gesundheitsfördernden Wirkungen beim Singen auftreten. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von einem Singen ohne Leistungsdruck in einer entspannten Atmosphäre, wo es nicht um Perfektion, um Aufführungen oder Erfolge geht, sondern um das Singen als Selbstzweck. Diese Formen des Singens breiten sich derzeit immer mehr aus, sowohl in Kliniken, als auch in der Gesundheitsvorsorge.

• Singen bewirkt die vermehrte Produktion glücklich-stimmender und motivierender Botenstoffe und Opiate im Gehirn wie Serotonin, Noradrenalin, Beta-Endorphin und Oxytocin. Singen kann als Anti-Depressivum ohne Nebenwirkungen eingesetzt werden.

• Singen verringert die Stresshormone Kortisol und Adrenalin und verschafft ein Gefühl angenehmen Entspanntseins. Außerdem erzeugt es das angstlösende Bindungshormon Oxytocin. Das Singen erleichtert daher den Aufbau von Vertrauen und freundschaftlichem Umgang miteinander.

• Durch die vertiefte Atmung beim Singen wird das Zwerchfell aktiviert. Das versorgt die Muskeln und Organe besser mit Sauerstoff. Englische Studien konnten nachweisen, dass sich bei Menschen mit Lungenkrankheiten bereits nach zehn Monaten durch das Singen die Lungenkapazität erhöhte und der allgemeine Gesundheitszustand verbesserte.

• Das Singen stimuliert die Produktion von Immunglobulin A, eines Antikörpers, der in den Schleimhäuten des Körpers sitzt und der Krankheitserreger und Allergene bekämpft. Studien konnten eine Steigerung um bis zu 240 Prozent nachweisen.

• Der Musikpsychologe Karl Adamek konnte in einer Studie zeigen, dass häufig singende Menschen selbstbewusster und weniger reizbar sind als Nichtsinger.

• Singen fördert soziale Kontakte und gegenseitige Unterstützung. Dies wird zum Beispiel in den »Singenden Krankenhäusern« genutzt, indem bei Menschen mit psychischen Problemen durch Singgruppen die sozialen Kontakte gestärkt werden.

Neben den genannten gesundheitsfördernden Wirkungen des Singens gibt es noch eine Fülle weiterer Wirkungen und therapeutischer Anwendungen in speziellen Bereichen, wie etwa bei Menschen mit Demenz, Aphasie (Sprachverlust nach einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnschädigung), Koma-Patienten oder bei früh geborenen Kindern.

Zum Autor: Wolfgang Bossinger ist Leiter der Akademie für Singen und Gesundheit, Psycho- und Musiktherapeut. Er ist Begründer von »Singende Krankenhäuser« und Vorstandsmitglied in der »Deutschen Stiftung Singen« und bei Il Canto del Mondo, dem Internationalen Netzwerk zur Förderung der Alltagskultur des Singens

Literatur: Wolfgang Bossinger: Die heilende Kraft des Singens, Battweiler 2006 | Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006 | Gerald Hüther: Singen ist Kraftfutter für Kindergehirne | Stephen Clift u.a.: »Community singing programme for older people with COPD«, Sidney De Haan – Research Centre for Arts and Health 2013 | Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe, Münster 2008

Links: www.healingsongs.de | www.singende-krankenhaeuser.de