Musikzauber … Zaubermusik

Holger Kern

Musik und insbesondere das Singen wirken intensiv auf das seelische Befinden. Wie oft schon haben Kinder, die Sorgen oder Leid mit in den Musikunterricht gebracht haben, nach dem Unterricht bestätigen können, dass es ihnen nach der Stunde bereits besser gehe. Es hatte sich wieder bestätigt, was sie an der Tür zu Beginn der Stunde gehört haben: »Komm erst einmal herein und sing mit: Musik heilt.« Sie konnten am eigenen Leib erfahren, wie Musik und Singen das Gemüt erheitern können. Friedrich Schiller drückte dies in dem bekannten, kleinen Zweizeiler aus: 

»Es schwinden des Kummers Falten,
so lang des Liedes Zauber walten.«

Bereits ein kleines Lied vermag diese Zauberkraft zu entfalten. Diese Kraft hängt innigst mit der Harmonie-Empfindung der menschlichen Seele und ihrer Liebeskraft zusammen. Marie von Ebner-Eschenbach fand in ihrem kleinen, aber zauberhaften Gedicht die passenden Worte:

»Ein kleines Lied, wie geht’s nur an,
dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele.«

Singen verwandelt den Menschen. In diesem menschlichen Tun, das sich in einem Gebiet vollzieht, das man als überaus flüssig und beweglich charakterisieren kann, gibt es für viele anfangs kaum einen sicheren Halt, kaum eine sichere Orientierung. Erst später wächst die in einem selbst herangereifte Sicherheit, den Weg der Melodie in sich selbst vorweg zu ahnen oder vorzuhören. Nur dadurch erhält man die notwendige Hilfe »Voraushören«, um die melodisch richtige Spur im »Chaos« der möglichen oder auch der gleichzeitig erklingenden Töne zu finden. Bleibt man unsicher, ist das ein Hinderungsgrund, sich ganz auf das Geschehen einzulassen. Man kann nicht eintauchen und sich verwandeln lassen.

Zauberflöte

Die mit der Musik zusammenhängende Zauberkraft hat mich während meiner langjährigen Schultätigkeit immer wieder in Erstaunen versetzt. Eine besondere Wirkung wiederholte sich dabei immer wieder in leicht veränderter Form. In allen Klassen und bei allen Erwachsenen, die dieses Erlebnis haben durften, wirkte dieser geheimnisvolle Zauber in der Musik: Die Zauberflöte. Dieses außer­gewöhnliche Werk verwandelt augenblicklich alle, die singend in dessen musikalische Erlebniswelt eintauchen. Immer wieder kann man erleben, dass diese tiefgründige, aber ebenso humorvolle, diese leichtfüßige, aber zugleich schwergewichtige Oper, die eigentlich »nur« ein Singspiel ist, die Menschen in ihren Bann schlägt und seelisch aufblühen lässt. Obwohl sie eigentlich für professionelle Musiker und Sänger geschrieben ist, wird sie in vielen Waldorfschulen von Kindern ab der 5. Klasse immer wieder selbst gesungen und gespielt. Es gibt zwar auch gute Gründe, die Zauberflöte in anderen Klassenstufen zu behandeln, aber die eigenen Erfahrungen mit der Zauberflöte in der 5. und 6. Klasse waren bisher so überzeugend, dass an dieser Stelle von dieser Möglichkeit geschwärmt werden soll. Denn in diesen Klassen der Mittelstufe sind die Kinder in einem hohem Maße »in der Menschlichkeit, im Humanistischen angekommen«. Sie können und kennen schon recht viel, ihre Stimmen klingen warm, hell und rein. Sie sind meist noch nicht von den vorausfliegenden Schatten der Pubertät verdunkelt, die sie dann egoistischer von den Dingen und anderen Menschen Abstand nehmen lassen, um ihr Eigensein im Innern »auszubrüten«.

In der 5. und 6. Klasse, auf einem Höhepunkt der Mittelstufe, entzündet das freudige, tief mitempfindende Erleben eines solchen Stoffes wie der Zauberflöte mit einer solch harmonischen Musik eine unnachahmlich weitreichende Begeisterung. Diese Musik in ihrer vollendet anmutenden Schönheit ist von einer derartig starken Wirkung, dass sie die Kinderaugen leuchten lässt und die Herzen weitet.

Die Kinder lernen, indem sie die Arien singen und die Dialoge lesen, wie nebenbei den Inhalt dieses – als »Märchen verzauberten« – Mysterienspiels kennen, ohne dessen Tiefe bereits jetzt erfassen zu können. Später in der Schulzeit oder im Leben kann aus diesem ersten Kennen-Lernen ein durchdrungenes und durchdringendes Erkennen dieser Schilderung eines Einweihungserlebnisses werden. Und dieses Kennen-Lernen ist eben ganz im Sinne der Waldorfpädagogik nicht bloß das intellektuelle Kennen und Wissen von der Existenz des Werkes oder seiner äußeren Fakten, sondern es ist ein erlebtes und empfundenes Kennen, ein durch das eigene Tun und Singen sicher verankertes Erfahrungs-Wissen, das durch das intensive Mitleben bis in die Tiefe des menschlichen Wesens reicht.

In der Zauberflöte steckt geheimnisvolles Menschheitswissen in bildhafter Gestalt und bietet sich von daher auch für die Pädagogik an. Es ist ein für diese Klassenstufen ausgesprochen passendes Werk: Wir Erwachsene sollten uns nicht dazu verleiten lassen, das oft eigens für die pädagogische Situation Hergestellte, angeblich »Kindgemäße«, aber doch leider inhaltlich und künstlerisch häufig Banale an die Kinder heranzubringen. Für eine wirkliche Bildung der Seelenkräfte brauchen die Kinder das künstlerisch Qualitätsvolle – schon in jungen Jahren. Auch wenn es in diesem Lebensalter noch nicht in allen Dimensionen verstanden wird, so zählt doch ein solches Werk durch seinen künstlerischen Gehalt zu denjenigen Werken, die in der Seele des Menschen weiterleben und wachsen können. An echter, gehaltvoller Kunst kann man sich nicht sattessen oder gar überessen.

Die Seele lebt mit

Die Kinder leben mit jeder Faser ihrer Seele mit den Charakteren mit. Sie erleben mit eigener Lust das Wütende und Böse an den Figuren der Königin der Nacht und des Monostatos; sie vermögen es darzustellen und damit aus sich herauszustellen. Genauso intensiv aber erleben sie eine ehrliche Genugtuung, wenn Sarastro sich als Weiser, als gütiger und gerechter Herrscher erweist, wenn die falschen und negativen Handlungen gesühnt werden und schließlich Tamino die Prüfungen besteht. Ganz besonders erfreuen sie sich natürlich an der Figur des Papageno, der mit seinen Unarten ihnen selbst ein Spiegel werden kann und der dank der Führung durch Tamino nicht »verderben« muss.

Wer jemals miterleben konnte, wie die Schüler singend und lesend von dieser Geschichte und ihrer Musik in den Bann geschlagen werden, wer gesehen hat, wie die Augen und Mimik zu strahlen beginnen, wer diese Herzlichkeit beim Singen, diese sich dabei so wunderbar entfaltenden Kinderstimmen hören durfte, kennt die mitreißende Begeisterung, welche die Zauberflöte zu entfachen vermag. Selbst die Eltern zuhause werden durch die tief erlebte Freude ihrer in der Zauberflöte seelisch aufgehenden Kinder von dieser Zaubermacht erfasst und von deren Begeisterung angesteckt.

Die Zauberflöte ist – wenn sie selbst musiziert wird – ein Zaubermittel, das in Schulklassen sogar Disziplin zu schaffen vermag, wo vorher keine war, und sie kann Kraft erzeugen, wo sie fehlte. Sie schafft einen belebten Seelenraum, der die Aufmerksamkeit und die Sinne ganz gefangen nimmt und die Seelen der Kinder in höhere Welten entführt. In ihr erscheint die Zauberkraft der Musik, die im Singen ihre stärkste Wirkung zu entfalten vermag, in konzentrierter und durch und durch künstlerischer Form.

Zum Autor: Holger Kern ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart für Musik und Musikpädagogik.