Fremdsprachendidaktik heute

Erhard Dahl

Beiträge, die sich der pädagogischen Dimension des Fremdsprachenunterrichts widmeten, nahmen ab. Auch konnten sich Untersuchungen, die kritisch den gesellschaftlichen Kontext des Fremdsprachenunterrichts durchleuchteten, nicht mehr in der Fachliteratur behaupten. Die Erkenntnisse der Linguistik wurden zunehmend kritischer betrachtet, denn sie konnte eine Vielzahl von Faktoren, die das Erlernen von fremden Sprachen im schulischen Unterricht bedingen, nicht beschreiben und erhellen. Forschungsbereiche wie die Lernpsychologie, die Psycholinguistik und die Zweitsprachenerwerbsforschung versprachen mehr Einsicht in die Lernprozesse der Lerner. Eine Vielzahl von internationalen Beiträgen machten einerseits die Komplexität der den Spracherwerb bedingenden Faktoren deutlich; andererseits überwältigten die differenzierten Beobachtungen all jene Fremdsprachendidaktiker, denen die theoretische Erforschung der Sprachaneignung ebenso am Herzen lag wie der Wunsch, die Ergebnisse in den Dienst der Praxis des Fremdsprachenunterrichts zu stellen.

Der Anspruch der genannten drei Forschungsbereiche, sowohl zum außerschulischen als auch zum schulischen Spracherwerb Ergebnisse vorzulegen, hat bei vielen Fremdsprachendidaktikern mehr und mehr an Geltung verloren. Es wurde immer deutlicher, dass sich das Sprachenlernen in der Schule in vielerlei Hinsicht vom ungesteuerten, natürlichen Zweitsprachenerwerb unterscheidet. In der Forschungsdiskussion mehrten sich um die Jahrhundertwende Beiträge, die von ihren Verfassern einer neuen Disziplin zugesprochen wurden, nämlich der »Sprachlehrforschung«.

»Sprachlehrforschung«: eine neue Disziplin

Die Verwendung des Begriffs »Sprachlehrforschung« erscheint sinnvoll. Zum einen setzt man sich damit von Arbeiten ab, deren Verfasser primär an Erkenntnissen über Lernprozesse und Gesetzmäßigkeiten während der Aneignung weiterer Sprachen interessiert sind, sich also nicht spezifisch auf das unterrichtlich gesteuerte Lehren und Lernen von Fremdsprachen konzentrieren. Zum anderen findet der Begriff seine Rechtfertigung darin, dass hier eine Disziplin herangewachsen ist, die zu einer Differenzierung des Forschungsbereichs »Fremdsprachenunterricht« beigetragen hat, wie man sie noch bis in die 1980er Jahre nicht kannte. Dass die Sprachlehrforschung den bisherigen Status der Fremdsprachendidaktik unter den Wissenschaften radikal verändert hat, steht außer Zweifel; ob sie die Verwendung des Begriffs »Fremdsprachendidaktik« obsolet werden lässt, ist diskussionswürdig. Der Begriff »Didaktik« in dieser Wortfügung verpflichtet jedenfalls den Forschenden zur Integration aller die Wirksamkeit des pädagogischen Handelns bedingenden Faktoren und erweitert die wissenschaftliche Analyse des Sprachenlehrens und -lernens im Unterricht um weitere Forschungsfelder.

Abschied vom Methodenmonismus

Zu den markantesten Veränderungen in der fremdsprachendidaktischen Forschung gehört die Tatsache, dass man von dem Versuch abgelassen hat, die Methode für den schulischen Fremdsprachenunterricht zu finden oder zu postulieren. Die hohe Akzeptanz linguistischer Erkenntnisse führte in den 1950–70er Jahren noch vergleichsweise schnell zu entsprechenden Methoden. Dazu gehören die »Audiolinguale Methode«, die »Audiovisuell-global-strukturale Methode« und der »Kommunikative Fremdsprachenunterricht«. Mit der Emanzipation der Fremdsprachendidaktik von linguistischen Strömungen und einer damit einhergehenden Fokussierung auf den Lerner ist das Bestreben verebbt, eine für unterschiedlichste Lernergruppen gültige Methode zu formulieren. Es herrscht Methodenpluralismus.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht der Lerner der fremden Sprache im Zentrum der Forschung. Man will ergründen, was sich im Kopf des Schülers abspielt, wenn er eine fremde Sprache im Unterricht wahrnimmt, verarbeitet und anwendet. Die Vielzahl der aus diesem Forschungsinteresse entstandenen Publikationen macht die Verfeinerung der Forschungsdisziplin »Fremdsprachendidaktik« in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich.

Neue Forschungsfelder

Untersucht wurde eine Vielzahl von Fragen: Welche Lernertypen und Lernstrategien gibt es? Lernen wir den Satzbau unterschiedlicher Sprachen stets in derselben Reihenfolge? Welcher Stellenwert kommt dem unbewussten und dem bewussten Lernen zu? Ist es legitim, zwischen Wortschatz- und Grammatikunterricht zu unterscheiden? Wie entsteht und welchen Einfluss hat eine »interlanguage« beim Lernen einer Zweitsprache? Wie ist die Sprachlerneignung der Schüler zu beschreiben und was sind ihre Voraussetzungen? Welche Merkmale (Grad der Reflexivität, Impulsivität, intrinsische Motivation, Leistungsbereitschaft, Selbstständigkeit, soziale Einstellungen) bedingen das Lernen von Sprachen? Lassen sich Lernprozesse vor dem Hintergrund der These, dass beim Lernen Wissen individuell »konstruiert« wird (Konstruktivismus), noch planen?

Darüber hinaus sind weitere Bereiche der Fremdsprachendidaktik zu nennen. Hierzu gehört das »computergestützte Fremdsprachenlernen«, das nach Auffassung seiner Befürworter den Schülern sowohl andere Formen der Kommunikation in der Fremdsprache als auch zahlreiche Informationsquellen und digitales Lernmaterial in großer Fülle beim Erlernen der fremden Sprache erschließt. Die Lerner treten von sich aus über das Internet mit Muttersprachlern in Kontakt. Das kann in den Unterricht einfließen und dem Fremdsprachenlernen die häufig beklagte Künstlichkeit nehmen. Im Internet selbst Informationsquellen zu suchen, und damit Lernwege zu finden, kann darüber hinaus autonomes Lernen fördern. Kritische Beiträge zur Verwendung von PCs im Unterricht verweisen darauf, dass die Rolle des Lehrers an Bedeutung verlieren und das Sprechen zugunsten des Schreibens und Lesens im Unterricht vernachlässigt werden könnte.

Der Forschungsbereich »Fremdsprachen auf der Primarstufe« gewinnt zumindest in Deutschland an Bedeutung. Bildungspolitische Entscheidungen führten dazu, dass in staatlichen Schulen mehrerer Bundesländer Englisch bereits ab Klasse 1 unterrichtet wird. Fremdsprachendidaktiker sahen sich aufgefordert, methodische Empfehlungen zu geben, auf die besonderen Chancen eines Frühbeginns aufmerksam zu machen und den Sprachlernprozess der Grundschulkinder mit Forschungen zum »natürlichen Zweitsprachenerwerb« zu erhellen.

Auch im Bereich der Literaturdidaktik ist es zu einer intensiven Forschungsdiskussion gekommen. Man setzte sich mit der Rolle des Lesers auseinander und damit, was beim Lesen geschieht. Wie die Lerner auf jeweils individuelle Weise Texte verstehen, was sie dabei wahrnehmen und empfinden, sollte zum Gegenstand eines fremdsprachlichen Gesprächs werden. Die Lerner sind aufgefordert, sich subjektiv zu äußern und den künstlerischen Mitteln auf die Spur zu kommen, welche ein bestimmtes Verständnis und bestimmte Leseerlebnisse ausgelöst haben. Diese von der Rezeptionsästhetik verursachte Diskussion findet auch ihre Kritiker, die in diesem Ansatz eine Bedrohung der Autorität des Autors und des literarischen Kunstwerks sehen.

Die heutige Fremdsprachendidaktik setzt sich zwangsläufig auch mit bildungspolitischen Entscheidungen auseinander, denn die Entwicklung zentraler Prüfungen und kompetenzorientierter Lehrpläne wie auch die Beschreibung von gemeinsamen, kompetenzorientierten Bildungsstandards greifen tief in den Fremdsprachenunterricht in Deutschland ein. Die Forschungsdiskussion ist in den letzten Jahren fast ausschließlich eine lerner-, und damit prozessorientierte Diskussion gewesen. Wie die Fremdsprachendidaktik die Aufgabe bewältigt, den Unterricht mit Blick auf die standardisierten Kompetenzen zu gestalten, ist offen.

Lehrwerkkritik damals und heute

Wurden in den 1970er und 1980er Jahren vornehmlich die Inhalte der Dialoge und Texte der Lehrwerke und das in ihnen implizierte Wertesystem kritisiert, so verweisen neuerlich einzelne Forschungsbeiträge (zum Beispiel von H.E. Piepho, R. Freudenstein, W. Butzkamm) auf die mangelnde Qualität der Dialoge und Texte. Sie kritisieren außerdem die in vielen Lehrwerken immer noch dominante grammatische Progression und deren additive Vorgehensweise. Die Tatsache, dass Lerner in einem nicht-linearen Prozess das System der neuen Sprache konstruieren, werde ignoriert. Übungschancen würden vergeben, Übungsformen verkümmerten, weil der Stoff vieler Lehrwerke zu umfangreich sei und sie die Leistungsheterogenität in den Klassen nicht berücksichtigten.

Jeder lernt anders

Die Fremdsprachendidaktik ist der Vielfalt der am Lernen beteiligten Faktoren durch differenzierte empirische Untersuchungen begegnet. Die Fragestellungen wurden verfeinert, voreilige Verallgemeinerungen vermieden. Das machte den Blick dafür frei, dass jeder »Schüler« anders lernt. Die Forschungsdiskussion führte zu vielen didaktisch-methodischen Empfehlungen. Zu erkennen ist auch, dass vom »Lerner«, sehr selten vom »Kind«, »Jugendlichen« oder »Schüler« die Rede ist. Die Lernvorgänge im Gehirn, die Abläufe während des Aneignungsprozesses werden untersucht, um die Effizienz im Sinne der pragmatischen Ziel­setzungen des Unterrichts zu steigern. Letztere sind eng verknüpft mit dem Verkehrswert der zu lernenden Fremdsprachen und den seit geraumer Zeit bestehenden gesellschaftspolitischen Erwartungen an dieses Schulfach. Die potenzielle pädagogische Wirkung des Fremdsprachenunterrichts auf die Sinnesentwicklung, auf die Welt- und Selbsterkenntnis der jungen Menschen, auf ihre Wahrnehmungsflexibilität ist nicht Schwerpunkt der fremdsprachendidaktischen Forschung – und auch nicht, was dieses Schulfach im Hinblick auf die aktuelle Bildungsdiskussion legitimieren könnte. Eine Ausnahme bilden Forschungsbeiträge zum »interkulturellen Lernen«. Diese Gesichtspunkte würden jedoch nicht nur zu weiteren Forschungsfeldern führen (z.B. »künstler­ischer Fremdsprachenunterricht« oder »Fremdsprachenerwerbsprozesse in ihrer Abhängig­keit vom Lehrverhalten«), sondern auch fast Selbstverständliches in der Fremd­sprachen­didaktik fruchtbar hinterfragen.

Für den Fremdsprachenunterricht an Waldorfschulen ist die pädagogische Wirksamkeit dieses Unterrichts zentral und Ausgangspunkt für didaktisch-methodische Empfehlungen. Das Forschungsinteresse erwächst aus Rudolf Steiners Verständnis des Fremdsprachenunterrichts als eines Unterrichts, der – wie alle weiteren Schulfächer auch – eine bedeutsame pädagogische Hilfe beim Heranwachsen des Kindes sein kann. Die vorrangige Bezugsdisziplin der waldorfpädagogischen Fremdsprachendidaktik ist seit fast einhundert Jahren die Pädagogik geblieben. Die Qualität methodischer und curricularer Neuerungen entscheidet sich an der Frage, ob diese Neuerungen mit einer gesunden Entwicklung des Kindes im Einklang stehen. Dass von einer solchen Orientierung beim Lehren von fremden Sprachen auch pragmatische Zielsetzungen dieses Unterrichts erheblich unterstützt werden, steht für unterrichtserfahrene Lehrer außer Frage.

Zum Autor:

Dr. Erhard Dahl hatte einen Lehrstuhl für Englische Literatur und ihre Didaktik bis 1990 an der Universität Paderborn inne; von 1990 bis 2012 war er Fachlehrer für Englisch an der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart, Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart.