Literatur als Pfingstwunder

Erziehungskunst | Als Kind haben Sie viel gelesen. Sie waren dann als Jugendliche überzeugte Trotzkistin, studierten Religionswissenschaften und waren Buchhalterin. Wann fingen Sie an zu schreiben?

Sibylle Lewitscharoff | Der Durchbruch zum Schreiben kam sehr spät, ich war schon 44. Aber ich habe vorher jahrzehntelang geschrieben. Sehr früh habe ich schreiben und lesen gelernt, noch vor der Schule. Und es war eine schöne Übung für mich, die Zeitung verkehrt herum zu halten und meinem Vater so vorzulesen. Dann fing ich bald an, selber kleine Sachen zu verfassen. Richtig heftig wurde es mit 15, 16 Jahren. Da habe ich einen hundertseitigen Roman geschrieben. Alles Quatsch, aber doch eine ganze Menge Seiten. Später habe ich dann immer wieder Anläufe genommen und war sehr verzweifelt, da ich den Eindruck hatte, dass es gar nichts taugt. Die Sachen waren so überstopft, sie hatten so etwas Überkandideltes, ich wollte auf die Pauke hauen. Und da verliert man dann schnell die Substanz dessen, worüber man schreiben will. So habe ich dann auch niemandem etwas zum Lesen gegeben. Als ich dann »Pong« fertig hatte, da dachte ich, das könnte ich doch einmal einem Verlag servieren. Der hat es dann auch prompt genommen und ich habe mit »Pong« den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.

EK | Von Herbert Marcuse gibt es den Satz: »Das Ende der Kunst ist ein Weltzustand, wo Menschen nicht mehr unterscheiden können zwischen dem, was ist, und dem, was möglich wäre: in anderen Worten, die vollendete Barbarei.« Bewahrt Literatur vor der Barbarei?

SL | Die Literatur hat die Aufgabe, die Zivilisierung des Menschen voranzutreiben, indem sie mit den Figuren, die sie über das Tableau schickt, die Verwerfungen, die Not, das Elend, das Vergnügen, das komplette menschliche Spektrum in verschiedenen Zeiten durcharbeitet. Literatur ist so auch immer ein Zeitspiegel. Es ist eine edle Aufgabe, die Menschen besser kennen zu lernen, man muss ihre Abgründe verstehen, man muss verstehen, dass die Menschen zu einem guten Teil traumverhangene Wesen sind, dass sie nicht nur in der Realität bestehen, sondern dass sie, wenn sie nachts ins Bett gehen, woanders sind.

Zum Menschen gehört etwas Doppelbödiges und es ist interessant, das literarisch auszuloten. Mein Credo wäre, das nicht auf sadistische Weise zu tun. Das heißt, einen verworfenen oder einen bösen Menschen, den sollte man so schildern, dass seine Rettung inbegriffen ist. Auch der böse Mensch ist als Mensch kostbar.

EK | Wie kann innerhalb der Literatur das Kostbare oder auch Gute selbst im bösen Menschen gezeigt werden?

SL | Die Sprache spielt da eine riesige Rolle. Ich neige dazu, ärmere Figuren, die im normalen Leben ordinär daher reden, sprachlich zu erhöhen. Sie nicht in den Taumel des sprachlich Minderwertigen zu ziehen. Das heißt, eine Art Ehrenrettung vorzunehmen, die natürlich ein bisschen irreal ist, was aber nichts macht. Man kann trotzdem die Armut, die Beengtheit des Denkens, die Beengtheit der Möglichkeiten zeigen. Ich verzweifle daran, wenn ich Literatur lese, die sich im sprachlichen Sadismus suhlt. Wichtig ist beim Lesen, dass eine Figur an einen hinwächst und dass man als Leser auch ein bisschen Mitleid entwickeln kann, dass man Bangen empfindet, was mit ihr geschieht. Wenn sie eine Figur von vorneherein sprachlich malträtieren, da ist jeder froh, wenn die Figur abgeschlachtet wird. Das versuche ich zu vermeiden.

Es ist eine wichtige Aufgabe der Literatur, das Scheußliche zu erzählen, aber eben auf eine Weise, dass sprachlich eine Rettung darin liegt.

EK | Was tragen Rhythmus und Laute dazu bei, sprachlich eine Art Gegenbild zur Enge der Wirklichkeit zu schaffen?

SL | Den Rhythmus halte ich für etwas absolut Wesent­liches, denn der Rhythmus funktioniert beim Leser, ohne dass er sich dessen bewusst wird, immer. Aber das ist etwas ganz Geheimes, der Leser kann da eigentlich gar nichts darüber sagen. Der Rhythmus wirkt unter der Haut. Wenn Sie zum Beispiel zwölf Nebensätze schreiben, dann sind Sie gedanklich natürlich in einer sehr weitschwingenden Spur, in der Sie sich in den Nebensätzen auch immer in die Rede fallen können. Das ist ein Hin- und Herwiegen der Gedanken. Aber wenn es eine schnelle Aktion ist, ein Pistolenschuss, dann muss das sitzen, zack.

Man muss ein Gefühl dafür bekommen, welche Aktionen, welche Momente, welchen Rhythmus verlangen. Zwar hat jeder Schriftsteller seinen eigenen Rhythmus, aber darin gibt es Varianten. Wenn man schreibt, muss man diese eigenen Varianten ausloten und sie richtig anwenden.

EK | Sie sagten in Ihrer Frankfurter Poetikvorlesung einmal: »Hätte man ein literaturfühliges Stethoskop, so könnte man einen Zusammenhang zwischen dem Herzschlag und den rhythmischen Lieblingsvariationen des jeweiligen Autors finden.« Mit dieser Aussage stellen Sie einen Zusammenhang her zwischen Physis, Herzschlag und Sprache. Könnten Sie das genauer erläutern?

SL | Generell wird die Körperlichkeit beim Autor unterschätzt. Nicht so, dass der große, fette Autor groß und fett schreibt. Aber in diesem zittert im Geheimen ein kleines Wesen, das anders sein will. Das heißt, er wird sich sprachlich vermutlich eher auf eine Seite schlagen, die seinem körperlichen Wunschdenken entspricht. Umgekehrt wird jemand, der mutig und etwas wilder in der Welt steht, zur Parataxe neigen. Er liebt es wahrscheinlich kurz und bündig. Das hat alles mit körperlichen Befindlichkeiten zu tun, in die das Ideenreich natürlich mit hinein spielt. Der Körper ist ja nie getrennt davon. Der Körper hat einen wesentlichen Anteil daran, wie wir denken, wie umgekehrt das Denken unseren Körper beeinflusst. Die Sprache ist so etwas zutiefst Individuelles und zugleich ist das Sprachvermögen natürlich auch Moden unterworfen. Aber ich glaube, dass körperliche und seelische Verfasstheiten ein tiefes Miteinander eingehen.

EK | Sprache wirkt also nicht nur auf Gedanken und Seele, sondern auch auf den Leib des Lesers?

SL | Ja, das würde ich denken. Dass es auch beim Leser dieses körperliche Phänomen gibt, dass er sich im Text behaust fühlt. Fühlungnahme heißt immer, dass der ganze Leib mit hineinschwingt. Das heißt, wenn Sie emotional bereit sind für einen Text und er sie zwickt und begeistert, dann sind Sie körperlich in einer anderen Stimmung. Wenn Sie verkrampft sind, dann liegen Sie bockig im Bett und legen das Zeug wieder weg. Menschen haben auch ein Schönheitsempfinden, ob der Rhythmus von Versen schön oder auch schroff ist. Denn zu schön darf es auch nicht sein.

Ein Beispiel: Ich hatte für mein Buch »Das Pfingstwunder«, das im September erscheint, 50 deutsche Gesamtüberset- zungen von Dantes »Göttlicher Komödie« auf dem Tisch und noch etwa dreißig halbe.

Diese Übersetzungen sind naturgemäß sehr verschieden und auch die Fähigkeit, den Rhythmus zu erfassen, ist äußerst unterschiedlich. Eine lahme Prosaübersetzung ist schlicht tote Hose. Da gibt es aber einen sehr interessanten Versuch von Rudolf Borchardt aus den zwanziger Jahren, der die Commedia in einem erfundenen Altdeutsch mit provençalischen Einsprengseln übersetzt. Es ist nicht so leicht zu verstehen. Wenn sie diese Übersetzung vortragen, so ist sie irre schön. Dieser Teufel hat versucht, den Vokalreigen von Dante im Deutschen einigermaßen nachzubilden. Das ist weltweit der einzige schräge Versuch einer Übersetzung nach lautlichen Gesichtspunkten. Es ist verrückt, aber es ist Klasse, dass es so etwas gibt.

EK | Ihre eigenen Texte sind bei aller Ironie und Spiel voll und erdig. Wie stellen Sie sich selbst zur Schöpferkraft des Wortes?

SL | Na, das ist ein großes Thema. Es ist vor allem ein gewaltiges biblisches Thema, das auch für den Koran sehr wichtig ist. Der Koran gilt als von Gott selbst niedergeschrieben. Und die Menschen, die seriös vom Koran begeistert sind, die erzählen ihnen immer, dass sie von diesen Versen wo anders hingetragen werden – auch körperlich. Der Koran stellt eine vollendete Schönheit dar.

Wenn Sie an die Bibel denken – an Gottes Atem –, gleich zu Anfang, so sehen Sie, dass die Atemwege eine riesige Rolle spielen, da dieser über die Stimme überhaupt in die Welt gelangt. Das ist ein zutiefst körperliches Phänomen. Und die Dichter meines Erachtens, die wissen das eigentlich. Auch moderne Dichter.

EK | Und bei Ihnen fällt das dichterische mit dem religions­wissenschaftlichen Wissen zusammen?

SL | Ja, sogar mit einer gewissen Religiosität. Religions­wissenschaft ist eine Wissenschaft. Aber ich war als Kind in der schönen Lage, eine freundliche, religiöse Großmutter zu haben, eine einfache Frau, die wunderbar aus der Bibel erzählte. Sie verkörperte das zutiefst Religiöse ohne Aggression. Sie war ein liebenswürdiger Mensch und für mich als Kind der Garant des guten Lebens.

Wenn sie da war, dann fühlte ich mich beruhigt und bestens an ihrer Seite aufgehoben. Es blühte das Herz dabei, wenn sie erzählte. Das vergisst man nicht, das ist ein riesiger Schatz. Meine Eltern waren da sehr anders, sie waren areligiös. Meine Mutter war zwar auch eine große Bücherleserin, aber nicht so wie die Großmutter. So habe ich Religiosität immer als etwas Schönes und nie Aggressives erfahren.

EK | Meinen Sie, das biblische Wissen und das, was an Seelen­kräften durch die Lektüre angeregt wird, lässt sich durch Kunst oder Kultur ersetzen?

SL | Da wäre ich vorsichtig. Die Bibel ist keine Literatur – dagegen sperre ich mich. Die Bibel hat eine besondere Bindekraft und Wirkmächtigkeit, die die sonstige Literatur nicht hat. Ein kleines Beispiel: Josef und seine Brüder nehmen in der Bibel zwei, drei kleine Abschnitte ein. Thomas Mann hat dazu über tausend Seiten geschrieben. Sie merken also, die Bibel hat überall Abgründe, die Freiheit für die Interpretation lassen.

Die literarischen Texte sind an der Schmiegsamkeit des Ineinander interessiert. Die Bibel ist parataktisch aufgebaut und lässt jedem Freiraum. Die Bibel erklärt sich nicht aus den Sätzen selbst. Sie müssen immer reinstochern.

EK | Auch bei Kafka gibt es lauter Abgründe …

SL | Kafka ist auch der Autor, der da am nächsten dran ist. Die Abgründe sind der Kern des Schreibens. Nur fügt sich bei Kafka nicht mehr der Kosmos zusammen, der ist zersplittert. Das heißt, es ist eine Gottessuche bei Kafka in den Texten, aber es ist eine Verzweiflung, weil Gott nicht zu finden ist. Darin ist Kafka ein vollkommen moderner Autor. Er hat kein Geistesbild überliefert, an dem man sich orientieren könnte. Trotzdem ist er in seinen Suchbe­wegungen großartig. Kafka ist mit seiner ausgekargten Juristensprache, die er so fulminant einzusetzen vermag, ein Jahrtausend­autor. In den kleinsten komischsten Texten geht es um große Menschheitsfragen.

EK | Es gibt keinen Text von Ihnen, in denen nicht Tote vorkommen. Sie haben auch einmal die schönen Sätze gesagt: »für die feinen Ohren der Toten müssen wir schreiben« und »wir fordern den Beistand der Toten«. Warum sind Ihnen die Toten so wichtig?

SL | Die Toten sind die Traditionshörer bei den Texten, wenn sie noch Ohren hätten und das verstehen könnten. Über die Toten vermittelt sich die Tradition. Ich bin sehr dafür, die Tradition nicht ad acta zu legen und zu sagen, wir machen etwas ganz Neues. Das Neue entsteht aus der Tradition heraus und nicht, indem man das Alte gewaltsam abschneidet. Je mehr Sie die Tradition in sich wirken lassen und damit auch im Grunde Totengeschenke annehmen und diese Geschenke auch lieben und ehren, sie nützen und pflegen, umso mehr können sie die eigene Sprache weiterentwickeln. Das ist eine schöne Art der Erinnerung. Ohne Traditionsbindung hängt man ziemlich arm in der Welt.

Ich finde es in diesem Zusammenhang geradezu ein Wunder, dass diese scheinbar alten Stücke von Dante, Shakespeare oder Homer heute noch zünden. Das ist das Wunder der Überlieferung: Es sprechen Menschen zu uns aus weit entlegener Zeit. Ich fühle mich auch sicherer, wenn ich weiß, dem Kosmos, dem ich angehöre, dem haben auch in der Vergangenheit ganz große Leute angehört.

EK | Wie würden Sie als Autorin Ihre Verantwortung für die Menschen und die Welt definieren?

SL | Diese ist natürlich indirekt, sie liegt in meinem Schreiben. Den ausgeschnitzten Sadismus wird man bei mir nicht finden. Ich bin immer bestrebt, trotz dargestellter Unverträglichkeiten, an die Schönheit der Welt zu erinnern. Ich meine nicht eine kitschige Schönheit, sondern die Vielfalt der Welt, die in sich auch schön ist. Ohne diese Funken, sei es in einer sagenhaften Landschaftsbeschreibung oder überhaupt in

körperlichen Beschreibungen, geht es nicht. Ich denke, man muss auch immer ein wenig vom Menschen wegführen – durch die Landschaft, durch die Tiere. Die Umgebung wirkt wie osmotisch auf einen ein und führt zu anderen Bildern. Mir geht es immer um die Durchdringung dessen, was man sehen kann, was sich an himmlischen Sensationen einstellt. Und bei mir ist die Frage nach dem Totenreich grundsätzlich groß. Mich interessiert es. Ich schwindele mich da auch gerne hinein. Das hat sicher auch biographische Gründe, weil mein Vater sich umgebracht hat. Ich habe schon als Kind überlegt, wo ist er jetzt, was ist mit ihm? Das hat mich schwer umgetrieben. Meine Todesgeneigtheit, nicht für mich, aber so insgesamt, hängt sicher auch damit zusammen.

EK | Ihr im September erscheinendes Buch heißt Das Pfingstwunder. Wozu brauchen wir heute ein Pfingstwunder?

SL | Das Pfingstwunder ist für die Literatur Klasse, da in anderen Sprachen gesprochen wird. Ich dachte, es ist eine schöne Konstruktion, wenn ich einen Kongress von Danteforschern 2013 in Rom zusammenkommen lasse, in dem wunderbaren Saal der Malteser auf dem Aventin – es ist ein hochmögender Schwebort, wo auch Überirdisches sehr leicht geschehen kann. Der Dantekongress ist dann nur Folie für ein Sprachwunder, das sich ereignet. Am Schluss fließen alle Sprachen des Kongresses in einem großen Sprachrausch ineinander.

Auch alle anderen Laute finden darin Eingang. Alles, was kläfft und lebt und schwirrt und tut und kracht – der Kosmos spricht mit –, habe ich versucht in den Text einzubauen. Es ist ein Riesenwunder mit einer solchen Auftriebsenergie, dass die Leute gen Himmel fliegen. Pfingsten als Erlösungs­moment in der Sprache abzubilden, das erschien mir als eine tolle Möglichkeit.

EK | Welche Autoren meinen Sie, müssten in der Schule gelesen werden?

SL | Kafka, Goethe, Kleist, die ganzen großen Namen, Thomas Mann. Auch Marcel Proust sollte gelesen haben, wer sich für Literatur interessiert, da steckt eine ganze Menschenkunde drin.

Ich finde nicht, dass das Schulprogramm mit Autoren bestritten werden sollte, die gerade so ums Eck liegen. Da sollte man eher auf die Tradition schauen. Ich halte auch nicht so viel davon, dass man Lektüren wählt, die gerade geschrieben wurden.

Die Fragen stellte Ariane Eichenberg.