Entspannt in den Schultag

Alexandra Natterer

Schon immer fühlten sich der Unterrichtsbeginn um 7:45 Uhr zu früh und die vielen kleinen Fünfminuten-Pausen zu kurz an. Dass nicht wenige Schüler zum Unterricht erschienen, ohne gefrühstückt zu haben und die Konzentrationsfähigkeit der meisten in der vierten Fachstunde nachließ, wurde zwar stets beklagt, doch wie ein Naturgesetz hingenommen. Erst infolge einer Auseinandersetzung mit dem Leitbild der deutschen Waldorfschulen während einer Konferenz im Sommer 2011 setzten wir uns eingehender als bisher mit einem gesunden Lebens- und Schulrhythmus auseinander.

Annäherung an einen gesunden Schulrhythmus

Im Laufe des darauffolgenden Schuljahres beschäftigte sich das Kollegium mit persönlichen, anthroposophischen und chronobiologischen Fragestellungen zum Thema Rhythmus:

• Alle Lehrer zeichneten die eigene Tagesform als Kurve auf und verglichen diese miteinander. Dabei zeigten sich überraschende Übereinstimmungen, wie eine gemeinsame Hochphase gegen 10:30 Uhr.

• Durch Kurzreferate gewannen wir erste Erkenntnisse aus dem Bereich der Chronobiologie, zum Beispiel dass es zwei Schlaftypen gibt, die sogenannten Lerchen (Frühaufsteher) und Eulen (Spätaufsteher).

• Unter dem Gesichtspunkt einer Kräfte erhaltenden Fächerabfolge wurden fiktive Stundenpläne entworfen und die optimale Länge der Pausen diskutiert.

Fachmännische Beratung und Unterstützung

Wolfgang Rißmann, Facharzt für Psychiatrie, wurde als erster Experte in Sachen gesunder Tagesrhythmus eingeladen. Er wies auf die langfristige salutogenetische Wirkung eines »atmenden«, von Wiederholungen geprägten Tagesablaufs hin.

Besondere Bedeutung maß er einem entspannt eingenommenen Frühstück, einem späteren Schulbeginn und einem stets zur gleichen Zeit stattfindenden Mittag­essen zu.

Das Klausurwochenende des Kollegiums in einer Hütte im Schwarzwald war geprägt von Aufbruchstimmung. Roland Sonne von der Klagenfurter Waldorfschule war eingeladen und erzählte von der dortigen Umstellung auf einen späteren Unterrichtsbeginn und der Neugestaltung von Unterrichtsfächern (siehe »Erziehungskunst« 1/2013). Der großen Begeisterung und der Hoffnung, auch für unsere Schule Ähnliches in Gang zu setzen, standen Ängste vor einer möglichen Deputatsverringerung und damit verbundene Sorgen um die Existenz gegenüber. Es erwies sich als befreiend, dass alles in großer Runde benannt werden durfte. Schließlich stand als gemeinsamer Wunsch im Raum: Wir wollen einen neuen Weg gehen.

Hoch motiviert bildete sich eine vom Schulführungskollegium bestätigte und mit Entscheidungsvollmacht ausgestattete »Rhythmusdelegation«, die aus sieben Lehrern verschiedener Fachbereiche, einem Vertreter des Hortes und drei Eltern bestand. Um die Effektivität der wöchentlichen Treffen zu steigern, wurde eine professionelle Prozessbegleiterin engagiert. Ein erstes großes Ziel sollte die Verbesserung des Stundenplanes unter zeitlichem Aspekt sein. Eine breit angelegte Umfrage ergab, dass zwei Drittel der Oberstufenschüler und über die Hälfte der Eltern den aktuellen Unterrichtsbeginn als zu früh empfanden.

Auf Lehrerseite wurde der Unterrichtsbeginn um 8:30 Uhr favorisiert, unter den Oberstufenlehrern sogar 9 Uhr. Damit folgten die Kollegen einem richtigen Gefühl, denn die Erkenntnisse der Chronobiologie gaben Antwort auf die Frage, warum gerade Oberstufenschüler oft müde und wenig aufnahmefähig zum Unterrichtsbeginn erschienen: Als Teenager werden die meisten Menschen zu Spätschläfern (Eulen), weil sich bei ihnen der Nachtmittelpunkt nach hinten verschiebt. Ein Sechszehnjähriger befindet sich dadurch in den frühen Morgenstunden noch mitten in seiner natürlichen Schlafphase. Da hilft auch früheres Zu-Bett-Gehen nichts. Das Nerven(zell)system taktet den Schlaf und steuert ihn.

Der aus Graz eingeladene Chronobiologe und Psychologe, Maximilian Moser, berichtete vor Schülern, Eltern und Lehrern von den Ergebnissen seiner Forschungsarbeiten.

Er machte deutlich, wie Körper­funktionen (Puls/Atmung/ Nervensystem) nicht nur Stoffwechselprozesse rhythmisieren, sondern auch zyklisch auf unser Aktivitäts- und Entspannungsbefinden wirken.

Wer gegen die im Menschen angelegten Rhythmen arbeitet – zum Beispiel durch Schichtarbeit, verschobene Schlafenszeiten oder ungünstig gelegte Pausen –, wirkt irritierend auf den Körper ein und provoziert Krankheiten. Für die Schule empfiehlt Maximilian Moser:

• einen Schulbeginn nach 8:30 Uhr;

• eine Unterrichtslänge von 45 oder 90 Minuten in Anlehnung an den basalen Ruhe-Aktivitätszyklus [Brac], der unsere Aufmerksamkeit steuert, dem eine Ruhephase folgt;

• eine längere Pause nach 90 Minuten Unterrichtszeit.

Erste Umstellungen

Es war klar, dass nicht einfach nur der Unterrichtsblock um eine halbe oder eine Dreiviertelstunde nach hinten verlegt werden konnte, die Schüler sollten ja zu einer noch vernünftigen Zeit zu Mittag essen. Wir verkürzten den Hauptunterricht auf 90 Minuten. Da aus den Umfragen deutlich hervorging, dass die Unterstufenlehrer die bisherige Unterrichtslänge (105 Minuten) beibehalten wollten, legten wir den Unterrichtsbeginn der ersten Klassen eine Viertelstunde vor den der anderen. Die Fünfminutenpausen wurden zugunsten von zwei großen Pausen (zwanzig Minuten und fünfzehn Minuten) abgeschafft, die vierte Fachstunde um fünf Minuten gekürzt. Auf diese Weise war es möglich, trotz eines späteren Schulbeginns von 30 bzw. 45 Minuten, die Mittagspause um nur 20 Minuten zu verschieben. Der Unterrichtsvormittag umfasste somit die Zeit von 8:15/8:30 Uhr bis 13:30 Uhr.

Nicht für alle Eltern stimmten jedoch Arbeitszeit und neuer Schulrhythmus überein. Deshalb erwies sich die Einrichtung eines Morgenhortes als notwendig; zwischen vierzehn und zwanzig Kinder besuchen diesen allmorgendlich.

Evaluierung

Die Ergebnisse wurden hauptsächlich von Oberstufenschülern ausgewertet. Die Umfrage unter den Schülern fiel eindeutig aus:

90 Prozent fanden den späteren Schulbeginn besser, 74 Prozent fühlten sich ausgeschlafener, die Hälfte sagte, sie könne morgens konzentrierter und motivierter in den Unterricht einsteigen.

Unter den Hauptunterrichtslehrern bemerkten 80 Prozent eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit bei den Schülern. Drei von vier Kollegen gaben an, dass die Unterrichtsinhalte trotz der Kürzung vermittelt werden konnten, auch wenn ein Drittel die Zeit als zu kurz empfand. Als sehr positiv bewertete man die Einrichtung der neuen zweiten großen Pause. Sie ermögliche es, ohne Hetze etwas zu sich zu nehmen oder die Toilette aufzusuchen. Auch war nun mehr Zeit für Gespräche mit Schülern zwischen den Stunden. Auf die Pünktlichkeit der Schüler hatte der verschobene Schulbeginn praktisch keine Auswirkung. Wer früher schon knapp dran war, blieb es.

Unter den Eltern freuten sich 70 Prozent über ausgeschlafenere Kinder, allerdings beurteilte über ein Drittel der Befragten den Unterrichtsschluss um 13:30 Uhr als zu spät. Insbesondere bei Kindern mit einem längeren Schulweg falle das Mittag­­essen in den Nachmittag. Eltern mit mehreren Kindern in unserer Schule gaben an, dass es ihnen als Familie aufgrund der unterschiedlichen Schulanfangszeiten in der Unterstufe gegenüber der Mittel- und Oberstufe nicht mehr möglich sei, morgens gemeinsam zu frühstücken. Zudem mussten sich ältere Geschwister als Wegbegleiter an den früheren Unterrichtsbeginn der jungen anpassen. Aus diesen Gründen veränderten wir im darauffolgenden Schuljahr den Stundenplan erneut zugunsten eines gemeinsamen Unterrichtsbeginns um 8:30 Uhr.

Das Thema gesunder Schulrhythmus ist mit der Umstrukturierung des Stundenplans nicht abgeschlossen. Sie ist ein erster großer Schritt in eine gute Richtung, der von anderen Waldorfschulen mit ähnlichen Vorhaben interessiert verfolgt wurde. Für die folgenden Jahre steht die Rhythmisierung, Verdichtung und Indivi­dualisierung der Unterrichtsinhalte in der Oberstufe auf dem Plan. Die neue Delegation dazu ist schon eifrig am Werk.

Zur Autorin: Alexandra Natterer ist Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Freiburg-Wiehre.