Kinder in der Gegenwart

Michaela Glöckler

Kinder leben in der Gegenwart. Sie freuen sich, wenn wir sie sehen, uns für sie interessieren und offen sind für das, was sie erleben und sagen. Ähnlich ist es mit allem, was wir »gesund« nennen, denn Gesundheit ist reine Gegenwart – sie entsteht in jedem Augenblick neu. Wenn ich heute gesund bin, heißt das nicht, dass ich es morgen auch sein werde. Daher ist es wichtig, zu wissen, wie Gesundheit gefördert werden kann und was sie beeinträchtigt. 

Drei Faktoren bestimmen die Entwicklung der körperlichen, seelischen und geis­tigen Gesundheit:

• Genetische, naturgegebene Veranlagungen, durch die »Reaktionsnormen« festgelegt sind; zum Beispiel wird im ersten Lebensjahr alle Aufmerksamkeit darauf konzentriert, den Körper aufzurichten, im zweiten Lebensjahr liegt alle Aufmerksamkeit auf dem Sprechen. Nicht die erworbenen Fähigkeiten sind vererbt, sondern jeweils nur die Disposition, sie zu erlernen. Daher braucht es altersentsprechende Lernangebote.

• Einflüsse aus der Umwelt, die über die Vielfalt der Sinneseindrücke und ihr Miterleben auf die körperliche Entwicklung des Kindes unmittelbar Einfluss nehmen. Nur das kann nachgeahmt werden, was das Kind zu sehen bekommt. Fehlen bestimmte Eindrücke und Erfahrungen, können sich bestimmte Anlagen nicht entfalten.

• Die Individualität des Kindes, die sowohl seine körperliche Veranlagung als auch sein Milieu durch ihre tätige Anteilnahme mitbestimmt. Aus der Resilienzforschung wissen wir, wie zutreffend der Hinweis Rudolf Steiners war, das Kind müsse liebevoll angesprochen, durch Interesse und Anteilnahme in den Leib und durch diesen in die Welt »hereingerufen« werden. Je mehr das Kind erlebt, dass es »gewollt« und »angenommen« ist, um so stärker folgt es diesem Ruf und bemüht sich, für sich und die Mitwelt »da zu sein«. So konnten manche Kinder sich zu gesunden lebensbejahenden Menschen entwickeln, die eine familiäre genetische Belastung hatten oder aus einem traumatisierenden Milieu stammten, während viele andere es nicht schafften und wegen mangelnder Ansprache gewaltbereit, kleinkriminell, alkohol- oder drogenabhängig wurden.

Diese drei Faktoren: genetische Veranlagung, Umwelteinflüsse und die sich inkarnierende einmalige Individualität bestimmen im Laufe der Entwicklung den Grad der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit.

Jedes Kind setzt sich individuell mit seiner genetischen Veranlagung und seinem Milieu auseinander. Eltern und Erziehern kommt die Aufgabe zu, wahrzunehmen, was das Kind jeweils braucht, was es lernen kann und will. Dabei gilt die von Steiner charakterisierte Grundhaltung, »Erziehung« als einen vom Kind aktiv provozierten und gesteuerten Lernprozess zu betrachten, den der Erwachsene zwar unterstützen, fördern und begleiten kann, jedoch nicht konditionierend beeinflussen sollte. Je besser dies verstanden und realisiert werden kann, umso selbstbestimmter und »authentischer« kann sich das Kind entwickeln und die Meilensteine seiner körperlichen, seelischen und geistigen Reifung erreichen.

Matrix der Entwicklung

Die drei funktionellen Hauptsysteme – Nerven-Sinnessystem, rhythmisches Transport- und Verteilungssystem und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem – kommen nicht gleichzeitig, sondern in typischer zeitlicher Abfolge nacheinander zur Ausreifung:

• Die Ausreifung der Sinnesfunktionen und etwa 90 Prozent der Kapazitäten des Zentralnervensystems erreichen bereits in den ersten acht, neun Lebensjahren die volle Funktionstüchtigkeit.

• Entwicklung und Stabilisierung der biologischen Rhythmen einschließlich der Ausreifung der Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus sind im Alter von 15-16 Lebensjahren abgeschlossen.

• Das Wachstum des Skelettsystems zur Erwachsenenform und die Stabilisierung der Stoffwechselvorgänge und des Hormonhaushaltes dauern je nach Hautfarbe und genetischer Veranlagung vom 18. bis 23. Lebensjahr.

Körperliche Gesundheit im ersten Jahrsiebt

Das Nervensystem und die sensomotorische Koordination – das heißt, die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit – können sich um so gesünder und leistungsfähiger differenzieren, je vielseitiger sie benützt, geübt und betätigt werden. Das Kleinkind experimentiert mit verschiedensten Bewegungen, lernt sich aufzurichten und entdeckt mit Hilfe all seiner Sinne die Welt. Daher gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen die Kinder sich aus eigenem Antrieb altersentsprechend bewegen und betätigen können. Durch die in diesem Alter so beliebten musikalisch-rhythmischen Singspiele wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens und des harmonischen Zusammenspiels veranlagt. Die Hirnforschung berichtet, dass ein Kleinkind 20 bis 50 Mal am Tag einen Zustand größter Begeisterung erlebt. Dabei kommt es im Gehirn zur Aktivierung der Zentren für emotionale Erlebnisse, was das Kind dazu veranlasst, das, was es mit Begeisterung macht, zu wiederholen und immer besser zu machen.

Stützen, Fördern, Begleiten durch:

• Anregung von Initiative durch eigenes Tun und »Vorbild-Sein«, anstatt vom Kind etwas zu fordern.

• Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und viele Gestaltungsmöglichkeiten zulassen.

• Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume.

• Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen.

• Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes.

• Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind, zum Beispiel beim Aufstehen und Zubettgehen und im Verlauf des Tages. Wenn der Tag mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es »in Gedanken tragen«, mitnehmen. Dann sind die Momente der Begegnung intensiv und substantiell.

• »Nonverbaler« Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind als freigelassen. Denn es ahmt aus eigenem Antrieb nach.

• Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug, weil sie die Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität massiv einschränken.

• Lebensfreude und Dankbarkeit zeigen.

• Klare Grenzen setzen und »leben«, das gibt Sicherheit und Orientierung.

Seelische Gesundheit im zweiten Jahrsiebt

Physiologisch steht die Entwicklung der Organe des Rhythmischen Systems im Vordergrund: Lunge und Herz-Kreislaufsystem. Das bedeutet, dass es jetzt um Gesprächs- und Gefühlskultur geht, um emotionale und soziale Reifungsprozesse. Denn jedes Gefühl, das im Wechselspiel mit der Umwelt und mit den Menschen zu Hause und in der Schule angeregt wird, hat unmittelbaren Einfluss auf die Reifungsprozesse dieser Organsysteme. Nicht nur im Erröten und Erblassen, auch am Kalt- oder Warmwerden von Händen und Füßen kann abgelesen werden, wie es der Blutzirkulation geht und ob die Atmung stockt, flach wird, unregelmäßig oder tief und ruhig ist.

Stützen, Fördern, Begleiten durch:

• Die von Steiner empfohlene »künstlerische« Methodik und Didaktik im Unterricht.

• Gesprächskultur erleben zuhause, in der Schule und sonst in der Gesellschaft.

• Mit inneren Fragen leben: Wie war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?

• Aus Fehlern lernen: Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten der Kinder und Jugendlichen zuhause und in der Schule um? Wie helfe ich, aus Fehlern zu lernen, den positiven Gewinn daraus zu ziehen? So lange Fehler machen mit Angst behaftet ist und Schamgefühle auslöst, entstehen Demütigungen, gefolgt von Lernunlust, Lernblockaden. Auch werden dadurch kriminelle Energien geweckt in Form von Sinnen auf Betrug und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Denn man möchte kompetenter erscheinen, als man tatsächlich ist.

• Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbezug der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie eingehalten werden.

• Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes, Singen und Musizieren in Gemeinschaft.

• Kontrollierter Multimediagebrauch zu Hause und, wo immer möglich, das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch. In der Schule sollte der Einsatz elektronischer Medien als Unterrichtsmittel noch konsequent vermieden werden zugunsten kreativer und menschlich-interaktiver Lern- und Entwicklungsprozesse.

Geistige Gesundheit im dritten Jahrsiebt

Die Entwicklung von Skelett und Stoffwechselsystem zur Erwachsenennorm wird am besten gefördert durch alles, was »aufrichtet« und begeistert. Sich selber Ziele stecken lernen, Ideale verfolgen, seine Hoffnung auf etwas setzen können – man sieht es den Jugendlichen am Gang an, ob sie das haben oder nicht. Drogenabhängige werden von Dealern am Gang erkannt. Wärmebildung und Aktivität der Verdauungsprozesse werden durch eigenständige geistige und seelische Verarbeitungsprozesse unterstützt.

Stützen, Fördern, Begleiten durch:

• Zeit haben zum Gespräch.

• Selbstdenken, Beobachten, Forschen und Auswerten anregen.

• Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen beschäftigt.

• Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen.

• »Familienrat« halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg oder Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten.

• Sich über das »ganz Andere« freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt.

• Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir – egal was kommt – und bin gespannt, wie Du werden wirst.

• Medienkompetenz entwickeln durch bewussten Einsatz elektronischer Medien, wo es altersentsprechend sinnvoll ist und den Unterricht fördert.

Bewegung und Spiel unterstützen insbesondere das Nervensystem in seiner Ausbildung. Das Organ für die geistige Tätigkeit braucht für seine gesunde Entwicklung körperliche Aktivität. Die seelische Tätigkeit und Gefühlsreifung stimuliert hingegen die Ausbildung des rhythmischen Systems, das seinerseits die körperliche Grundlage des Gefühlslebens ist. Die geistige Entwicklung, das selbstständige Denken, wirkt sich fördernd auf die gesunde Entwicklung der Stoffwechsel- und Gliedmaßen-Funktionen aus. Körperliche, seelische und geistige Entwicklungsprozesse stehen so in Wechselwirkung mit einander – wie auch die Entwicklungsprozesse, die Gesundheit bewirken.

Zur Autorin: Dr. med. Michaela Glöckler war Kinderärztin am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und an der Universitäts- Kinderklinik in Bochum, schulärztliche Tätigkeit in der Rudolf-Steiner-Schule in Witten und hat seit 1988 die Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum.

Literatur:

G. Opp, M. Fingerle (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, München 2008 | G. Soldner, H. M. Stellmann: Individuelle Pädiatrie, Stuttgart 2011 | W. Goebel, M. Glöckler: Kindersprechstunde, Stuttgart 2013 | P. Selg: Ich bin anders als Du. Vom Selbst- und Welterleben des Kindes in der Mitte der Kindheit, Arlesheim 2011 | J. W. Rohen, E. Lütjen-Drecoll: Funktionelle Anatomie des Menschen, Stuttgart 2006 | B. Rosslenbroich: On the Origin of Autonomy. A New Look at the Major Transitions in Evolution, Heidelberg, New York 2014 | www.gerald-huether.de/populaer/ veroeffentlichungen-von-gerald-huether/texte/begeisterung-gerald-huether/index.php