Abenteurer gesucht

Henning Kullak-Ublick

Ein Journalist fragte Albert Einstein, wie man eigentlich Genies erzeugen könne. Er antwortete: »Erzählen Sie den Kindern Märchen!« Der Journalist hakte nach: »Und wenn das nicht genügt?« Einsteins Antwort: »Dann erzählen Sie den Kindern noch mehr Märchen!«

In Märchen geht es immer ums Wesentliche: Um gut und böse, um Verzauberung und Erlösung, Versuchung und Überwindung, Furchtsamkeit und Mut, Entwicklung oder Stillstand, alles oder nichts. Eben ums Leben und die Freiheit.

Und darum geht es auch in der Schule. Deshalb ist der Satz »nicht für die Schule, für das Leben lernen wir« meistens ein (ziemlich hilfloser) Trick der Erwachsenen, um den Kindern einzureden, dass etwas wichtig sei, ohne wesentlich zu sein – beispielsweise ein langweiliger Unterricht. Schließlich müssen sie am Ende ja irgendwelche Prüfungen bestehen und dafür muss man lernen, auch wenn kaum jemand weiß, warum eigentlich gerade diese Inhalte für das weitere Leben so entscheidend sein sollen. Aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem stimmt der Satz – wenn er an die Adresse der Schulen geht: Die müssen selbst das Leben sein, dann können die Kinder in ihnen (für) das Leben lernen.

Lehrer sollten daher Abenteurer sein – Abenteurer des Geistes und Abenteurer der Erlebnistiefe. Als Lehrer braucht man den Mut, wenigstens ab und zu zusammen mit den Kindern in noch unerschlossenes Terrain vorzudringen. Und als Eltern braucht man den Mut, genau das zuzulassen, auch wenn das Ergebnis nicht schon vorher fest steht.

Es gehört zu den Geheimnissen unserer Freiheit, dass unser Denken, Fühlen und Wollen spätestens mit dem Erwachsenwerden keine natürliche Einheit mehr bilden, sondern immer wieder neu in ein Verhältnis zueinander gebracht werden müssen – mit zunehmendem Alter immer bewusster. Das beizeiten zu üben ist das eigentliche Arbeitsfeld der Schule, indem sie den Schülern hilft, diese seelischen Kräfte als Schlüssel zur Welt- und Selbsterkenntnis zu erfahren und einzusetzen.

Zurück zu Einsteins Lob der Märchen: Sie fordern unsere Intelligenz, indem sie uns die Verwandlung der Bilder nachschaffen, mitempfinden und irgendwann erkennen lassen. Sie sind das kreative Original (und multimediale Fertigbilder dessen Fälschung). Wenn es einem Lehrer gelingt, sein Wissen zu vergleichbar lebendigen Bildern zu verdichten und sich dann mit den Schülern auf eine künstlerische, gedankliche oder handlungsorientierte Entdeckungsreise zu begeben, ist die künstliche Trennung von Leben und Schule aufgehoben. – Fühlen Sie sich angesprochen?

Wir suchen abenteuerlustige Lehrer.

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)