Der große Bruder lügt

Henning Kullak-Ublick

Im Juni machte die Nachricht Furore, der amerikanische Geheimdienst NSA erfasse allein in Deutschland monatlich eine halbe Milliarde Telefonate, E-Mails und sonstige elektronische Kontakte. Eine Woche später waren die Verkaufszahlen von George Orwells Roman 1984 in den USA um 5.800 Prozent nach oben geschossen

Orwell schrieb seinen Zukunftsroman kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und sah darin den totalen Überwachungsstaat voraus, der die Menschen mittels einer damals völlig utopischen Technik bis in ihre Wohnzimmer hinein observierte. Die Überwachung 2013 geht weit über Orwells Albtraum hinaus.

Von dem Terror, der in dem Roman auf die leiseste Abweichung von der offiziellen Doktrin zwangsläufig folgt, sind wir weit entfernt. Orwell beschrieb aber noch ein weiteres, sehr viel nachhaltigeres Herrschaftsinstrument, das das Denken der Menschen selbst verändert: »Newspeak«, deutsch »Neusprech«. Diese Sprache erklärt Lügen zu Wahrheiten. Zum Beispiel wird das Propagandaministerium zum »Ministerium für Wahrheit« (Minitrue) umbenannt. Oder es werden neue Verben wie »doublethink« (Doppeldenk) eingeführt, die für wahr erklären, was der eigenen Wahrnehmung offensichtlich widerspricht oder zwei sich ausschließende Tatsachen gleichzeitig als wahr behaupten, weil sie eine Autorität (der »Große Bruder«) verkündet hat.

Während wir uns über die staatliche Überwachung empören, werfen wir unsere persönlichsten Daten auf den verschiedensten elektronischen Kanälen einer geldgierigen Meute vor, die damit trotz einiger Einschränkungen weitgehend machen kann, was sie will. Ist das nicht ein klassischer Fall von »Doppeldenk«? Unterwerfen wir uns – wenn nicht unbedingt als Einzelne, so doch als Masse – heute nicht schon längst freiwillig einem medialen Umerziehungssystem, das uns ständig mit »individualisierten« Rollenbildern und Konsumanreizen versorgt, die uns zu einer manipulierbaren Größe machen?

Wir sind dieser Entwicklung keineswegs ausgeliefert, aber unsere Kinder sind es, wenn sie nicht Erwachsene in ihrem Umfeld finden, die den Scheinautoritäten einer milliardenschweren Verführungsindustrie etwas ganz anderes entgegensetzen: Authentizität. Eine herausragende Rolle kommt dabei der Sprache zu, denn an ihr entwickelt sich das Denken. Wenn Kinder mit ihrer Phantasie und ihren Herzen in lebendig und schön erzählte Märchen und Geschichten eintauchen können und wenn sie im Gespräch mit Erwachsenen erleben, dass die Sprache weit mehr als ein akustischer Infoservice ist, dann – und nur dann – machen sie die Erfahrung, dass Sprache ein Tor zur Wahrheit ist. Die Gegenkraft zum »Großen Bruder« ist das Gespräch mit unseren Kindern.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)