Dialog gegen Barbarei

Henning Kullak-Ublick

Wladimir Putin hat die Krim »heim ins (russische) Reich« geholt und sich dabei auf ein Referendum berufen, bei dem die russischstämmige Mehrheit der Krimbewohner Minderheiten wie die Krim-Tartaren überrollte. Unterdessen begegnet mir auf Europas größter Bildungsmesse, der didacta, überall das diesjährige Mantra »dialogisches Lernen«, was zwar ein Marketing-Slogan für digitales Lernen ist, aber trotzdem ein Anlass, mal über den Begriff »dialogisch« nachzudenken.

Auch mit Bezug auf die Ukraine, denn dialogisch war die Annektierung der Krim ja nicht wirklich. Interessant ist, dass sowohl Putin als auch seine westlichen Kritiker das »Selbst­bestimmungsrecht der Völker« bemühen, um ihre jeweiligen Positionen zu rechtfertigen.

In Europa geht die Angst um, dass sich hier eine ähnliche Situation anbahnt, wie sie dem Ersten Weltkrieg vorausging. Damals rangen die europäischen Staaten mit großem nationalistischem Aufwand um die Vorherrschaft in Europa, wenn auch mit sehr viel mehr Säbelrasseln als in der aktuellen Krise. 1914 propagierte Lenin das »Selbstbestimmungsrecht der Völker«, eine Idee, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson nach dem Kriegsende in seinem »14-Punkte-Plan« wieder aufgriff. Seither dient diese Formel weltweit sowohl den Herrschaftsansprüchen der Staaten wie auch einzelnen Bevölkerungsgruppen zur Legitimation ihrer ethnisch, wirtschaftlich, politisch oder religiös-kulturell begründeten Abspaltungsbestrebungen.

Seit einigen Jahren ist auf der ganzen Welt eine Zunahme nationalistisch-separatistischer Tendenzen wahrnehmbar, die in Europa von den »Wahren Finnen« über die französische »Front National« bis zur niederländischen »Freiheitspartei« des Populisten Geert Wilders und zu den Rechtsradikalen in Deutschland reichen. Sie alle berufen sich auf das Selbstbestimmungsrecht und rechnen bei der bevorstehenden Europawahl mit einem zweistelligen Ergebnis.

1989 schrieb der liberale Staatstheoretiker Ralf Dahrendorf einen bemerkenswerten Aufsatz für die »Zeit«, der den Titel »Nur Menschen haben Rechte« trägt. Darin heißt es unter anderem: »Es gibt kein Recht der Armenier, unter Armeniern zu leben. Es gibt aber ein Recht für armenische Bürger ihres Gemeinwesens, Gleiche unter Gleichen zu sein, nicht benachteiligt zu werden, ja auch ihre eigene Sprache und Kultur zu pflegen. Das sind Bürgerrechte, Rechte der Einzelnen gegen jede Vormacht. Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht hat unter anderem als Alibi für Homogenität gedient, und Homogenität heißt immer die Ausweisung oder Unterdrückung von Minderheiten.«

In der Zeit globaler Migration erweist sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker als nachgerade barbarisch, weil es die Unterdrückung von Minderheiten weder verhindern kann noch will. Nicht um die »Völker«, sondern um das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen geht es! Das sollten wir bei der bevorstehenden Europawahl im Blick behalten.

Bei der didacta stellte mir Cem Özdemir von den Grünen an unserem Waldorf-Stand nun schon zum dritten Mal die gleiche Frage: »Wann kann man an der Waldorfschule endlich türkisch lernen?« Wäre das nicht dialogisches Lernen mit der größten ethnischen Minderheit in Deutschland?

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de); Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik«.