Eliteinsel oder Artenvielfalt?

Henning Kullak-Ublick

In zwei Gesprächssituationen schieden sich die Geister. Die erste ist schnell erzählt: Ein Teilnehmer aus dem Publikum lobte die Zusammensetzung des Podiums, weil auf der einen Seite Louisenlund sitze, dem das staatliche Schulwesen zu wenig, auf der anderen Seite »die« Waldorfschule, der das staatliche Schulwesen zu stark leistungsorientiert sei. Die zweite Situation knüpfte an die Frage nach Bildungsgerechtigkeit an, bei der sich beide Schulvertreter sofort einig waren, dass sie gerade nicht darin bestehen könne, dass alle das Gleiche machen. Dann allerdings wurde es kontrovers, denn Rösner plädierte für eine sehr klare Auslese von mathematisch oder naturwissenschaftlich besonders begabten Schülerinnen und Schülern, die auf besonderen »Inseln« zusammengeführt werden sollten, auf denen sie ihre Begabungen in den so genannten MINT-Fächern – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – entwickeln könnten, ohne, so wörtlich, im »Sumpf« normaler Gymnasialklassen lernen zu müssen, in denen sich alle anderen doch nur langweilten.

Inseln inmitten von Sümpfen? Mir kam, als ich an eine »normale« Klasse dachte, sofort eine blühende Wiese mit den unterschiedlichsten Kräutern, Gräsern, Blumen, Schmetterlingen, Bienen, Käfern und was sonst noch alles wächst und krabbelt in den Sinn, die alle zusammen ein sich gegenseitig belebendes Ökosystem bilden. Offenbar liegen diesen Bildern zwei völlig unterschiedliche Ideen von Begabung, Leistung, Kindheit und Jugend zugrunde.

Auch die Annahme des oben zitierten Redners aus dem Publikum, »Waldorf« sei weniger leistungsorientiert als das staatliche Schulsystem, beruht auf einer, heute allerdings weit verbreiteten, Verwechslung von Leistung und Anpassungsdruck. Leistung wird auf den in Noten gemessenen Abstand von vorgegebenen Zielerwartungen reduziert. Individuelle Leistungen liegen oft aber gerade nicht nur außerhalb von, sondern weit über genormten Rastern. »Leistungsorientiert« sollte sich eigentlich nur noch nennen dürfen, wer die individuelle Leistung jedes Einzelnen mindestens so ernst nimmt wie die standardisierten Prüfungen.

Schauen wir mit dieser Klarstellung noch einmal auf Inseln, Sümpfe und Wiesen. Kindheit und Jugend sollten der umfassenden Begegnung mit der Welt, der Kultur, anderen Menschen, anderen Begabungen und sich selber dienen und gerade nicht einer spezialisierten Verinselung. Wenn wir aber bunte Wiesen wollen, gehört die Förderung besonderer Begabungen genauso dazu wie die Hilfe bei Schwächen. Viele Jahresarbeiten, Kunstprojekte und das Kasseler Jugendsymposium zeigen, dass es eine Elite jenseits von »elitär« gibt. Mehr davon im Schulalltag! ‹›

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis