»Giftzettel-Alarm …«

Henning Kullak-Ublick

… titelte die Stadt Hameln auf ihrer Webseite, um die Schülerinnen und Schüler der Stadt auf eine Notrufnummer hinzuweisen, bei der sie sich seelischen Beistand für die bevorstehenden Halb­jahreszeugnisse holen konnten. Trotz des Augenzwinkerns, mit der diese Formulierung den Griff zum Telefon erleichtern soll, erzählt sie uns einiges über unser Verständnis von Schule und Lernen im Jahr 2012. Und im Sommer wird es erst richtig ernst, denn jetzt geht es um Versetzungen, Berechtigungen, Zukunftschancen.

Ein Notensystem bewertet niemals die Leistungen des Einzelnen. Es kann gar nichts anderes, als einen statistischen Vergleich mit anderen Schülern herzustellen. Dafür müssen messbare Eckwerte herangezogen werden. Allerdings: Ohne Sieger und Verlierer verlieren Noten jeden Sinn. Das bekam auch die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny vor einigen Jahren zu spüren: Sie wurde nach einem Disziplinarverfahren strafversetzt, weil sie sich weigerte, die guten Leistungen ihrer Schüler schlechter als mit Einsen und Zweien zu bewerten.

Die unausgesprochene Botschaft dieses irreführend als »Zeugnis« ausgewiesenen Ranking-Systems ist, dass es beim Lernen nicht um individuelle Leistungen, sondern um die Pole-Position in einem knallharten Konkurrenzkampf geht. Wer sich am besten an vorgegebene Standards und die Vorlieben der beurteilenden Lehrer anpasst, macht das Rennen. Damit reproduziert sich eine Arbeitsideologie, die nicht von der Bereitschaft der Menschen ausgeht, sich für sinnvolle Ziele einzusetzen, sondern von der Voraussetzung, Arbeit sei eine zu vermeidende Last, zu der man die Menschen über Abhängigkeiten oder Profite zwingen muss. Wohin eine solche Ideologie führt, zeigen uns die ungelösten sozialen, ökologischen und (inter-)kulturellen Herausforderungen unserer Zeit. Sie sind von Menschen gemacht und können nur von Menschen gelöst werden, die mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen über das Gewordene hinausreichen können.

Was hat das mit einem Zeugnis zu tun? In einer Zeit, die durchweg auf externe Evaluation setzt, lohnt es sich, auf zwei methodische Anregungen zu schauen, die Rudolf Steiner allen Lehrern ans Herz gelegt hat: die Tagesrückschau und den pädagogischen Entwicklungsdialog, auch »Kinderbesprechung« genannt. Während die Rückschau hilft, das eigene Handeln zu reflektieren, führt der Entwicklungsdialog zu einem tieferen Verständnis der Wesensäußerungen der Kinder. Wer beides übt, kann den Blick der Kinder und Jugendlichen auf ihr Können und von dort ausgehend auf die nächsten Schritte, die sie gehen sollten, richten. Es geht immerhin um ihr Leben.

Ein Berichtszeugnis offenbart immer mindestens so viel über seinen Autor wie über die Schüler, die es beschreibt – auch dann, wenn es nicht viel zu sagen weiß. Es ist ein Gespräch zwischen zwei Menschen, die sich zusammengetan haben, um die Welt lernend weiterzuentwickeln. Giftzettel? »Gift« ist auch das englische Wort für »Gabe«. Begaben wir uns!

Henning Kullak-Ublick, seit 1984 Klassenlehrer (zurzeit freigestellt), Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule | www.freie-schule.de