Glaubst du das?

Henning Kullak-Ublick

Noch mit weit über achtzig Jahren ging sie am Heiligen Abend auf die Reeperbahn und lud Prostituierte, Obdachlose oder Bedürftige zu sich ein, um mit ihnen zu teilen und ihnen von ihrem innig geliebten Jesus zu erzählen. Als sie starb, blieb die Familie fern, aber in der Friedhofskapelle saßen Viele, denen das Leben offensichtlich hart mitgespielt hatte. Der Prediger verlas einen langen Brief, in dem Tante Ninne ihre Mitmenschen für jede noch so kleine Sünde, die sie auf sich geladen hatte, um Verzeihung bat. Von der wilden Punkerin bis zu dem Betrunkenen, der sich die ganze Zeit an mir festhielt, hörten alle tief bewegt zu. Ganz zum Schluss kletterte eine ebenfalls sehr betagte Dame auf den aufgeworfenen Erdhügel, richtete Schirm und Blick gen Himmel und rief: »Ninne, ich freue mich, bald sehen wir uns wieder!«

Einige Jahre später hatten wir in der vierten Klasse unsere erste Menschen- und Tierkunde-Epoche, bei der zunächst die Gestalt des Menschen mit der einiger charakteristischer Tierarten verglichen wird, um später die menschliche Hand als Organ unserer Freiheit und damit Verantwortung genauer anzuschauen. Ein besonders gut meinender Vater ergänzte meine »Waldi«-Gesichtspunkte, indem er seinem Sohn parallel dazu populärwissenschaftliche Filme über die Evolution und das Sonnensystem zeigte. Eines Morgens kam der Junge zu mir und erklärte: »Die Sonne ist ein Fusionsreaktor!« Auf meine Frage, was das denn sei, antwortete er: »Da werden so kleine Krümel zusammengebacken.« Die Mutter Sonne war über Nacht zu einer seelenlosen, abstrakten Energiequelle geworden. Erst als wir darüber sprachen, wie viel Liebe sie in sich haben müsse, um ihr Licht und ihre Wärme allen Pflanzen, Tieren und Menschen auf der weiten Welt schenken zu können, wurde sie wieder zu einem realen Wesen, Fusionsreaktor hin oder her.

Es ist halt so eine Sache mit den Glaubensdingen. Hat der Papa meines Viertklässlers mehr vom Menschen verstanden als Tante Ninne, weil er nicht an »Jesus« glaubte, sondern an eine materielle Zufalls-Evolution, deren Substanzen aus Versehen angefangen haben, sich ihrer Existenz bewusst zu werden?

Wir sollten unsere Kinder beizeiten lehren, Erkenntnis nicht als etwas aufzufassen, das man an religiöse oder wissenschaftliche Autoritäten delegieren kann oder gar muss, so bedeutend sie sein mögen. Erkenntnis steht als eine unserer urmenschlichen Fähigkeiten immer in unserer Verantwortung. Lehren wir die Kinder also, Fragen zu stellen, hinzuschauen, ihrem Denken zu vertrauen und auch ihre Phantasie und ihr Herz zu Erkenntnisorganen auszubilden, Irrtümer eingeschlossen, aber eben auch das immerwährende Streben nach Wahrheit. Nur so können Glaube und Erkenntnis wieder zusammenfinden. Im Menschen selbst.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.