Honig der Freiheit

Henning Kullak-Ublick

Erschütterungen, die unendliches Leid, aber auch unerwartete Wellen der Hilfsbereitschaft mit sich brachten; die Risse im dünnen Eis unseres noch nicht wirklich demokratisch verfassten Europa sichtbar und den Neo-Nationalismus stark gemacht haben; die unsere gefühlte Geborgenheit vor der Bedrohung durch islamistischen Terror ins Wanken gebracht haben; die uns die katastrophalen humanitären und ökologischen Folgen des entfesselten Geldwesens vor Augen führten; die uns immer drängender mit der Frage konfrontierten, worum es uns auf dieser Erde überhaupt geht.

Das wiederum ist keine neue Frage! Ärgerlich nur, dass man sie nicht beantworten kann, ohne dass die Antwort Auswirkungen auf das eigene Leben hat. Vielleicht hilft es, die Perspektive in Anlehnung an einen Satz Rudolf Steiners zu formulieren, der sagt: »Suchst du dich selbst, so suche draußen in der Welt. Suchst du die Welt, so suche in dir selbst.« Erschüttern wir uns am Ende selbst?

Vor einigen Wochen besuchte ich einen älteren Herrn, der in der wunderschönen Mittelgebirgslandschaft Virginias eine Farm gegründet hat, deren vornehmstes Ziel es ist, den Bienen einen würdevollen Lebensort zu geben: in einem Land, in welchem zwei Drittel aller Bienenvölker in riesigen Containern herumgefahren werden, um die gigantischen Monokulturen zu befruchten, deretwegen sie ohne diese Transporte außerhalb der Blütezeit verhungern müssten. In einigen Gegenden Chinas werden die Obstbäume schon von Hand bestäubt, weil es keine Bienen mehr gibt. Der Grund des Besuches ist die Idee, dass die weit über 1.000 Waldorfschulen der Welt noch vor dem hundertjährigen Jubiläum dieser pädagogischen Bewegung im Jahr 2019 Bienen halten oder, wo das verboten ist, Bäume für sie pflanzen sollten.

Bienen sind Sonnenwesen, die nicht nur für die Befruchtung von zwei Dritteln unserer Nahrungspflanzen gebraucht werden, sondern uns vor allem zeigen, wie es um unsere Seelen bestellt ist. Um es noch einmal mit Steiner zu sagen: »Der ganze Bienenstock ist eigentlich von Liebesleben durchzogen.« Die Liebe, die wir in unserem Herzen hegen, ist die »Substanz des Bienenstocks«. Was stirbt, wenn sie sterben? Was passiert mit uns, wenn wir die Erde zu einem Ort machen, an dem sie leben können? Wird sie dann auch zu einem Ort, an dem die Menschen menschlich leben können?

Die Frage stellt sich also, ob wir uns genug erschüttern lassen, um Entscheidungen zu treffen, durch die sich die Welt verändert. Die Bienen sind ein wunderbares Bild für jene spirituelle Kraft, die unserer Freiheit erst die Würde gibt: für die Kraft einer Liebe, die wirksam werden will. Die Liebe ist der Honig der Freiheit, ohne den unser Dasein auf dieser Erde bitter wird.

spikenardfarm.org | queenofthesun.com

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.