Mach’ mich nicht schwach

Henning Kullak-Ublick

Michael Schulte-Markwort, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Hamburger Uniklinikums, diagnostiziert seit etwa fünf Jahren vermehrt Erschöpfungsdepressionen bei Kindern und Jugendlichen. Ein Krankheitsbild, das es früher in dieser Altersgruppe nicht gab. Und der Aktionsrat Bildung schreibt in einer kürzlich erschienenen Studie »Belastungen und Burnout beim Bildungspersonal«, dreißig Prozent aller Lehrer und Erzieher litten an Erschöpfung oder anderen psychischen Problemen.

Vor wenigen Jahren wurde mit großem Tamtam G8, also die verkürzte Gymnasialzeit, eingeführt. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass sehr viele Schüler damit überfordert sind und gleichermaßen über das »Bulimie-Lernen« (schnell rein, schnell raus) wie über den Verlust jeglicher Freizeit klagen. Und weil laut einer EMNID-Umfrage 79 Prozent aller Deutschen das Turbo-Abi ablehnen, ist G9 plötzlich wieder angesagt – rette sich vor den nächsten Wahlen, wer kann.

Alles wieder gut und demokratisch korrekt? Wirklich? Zeigt sich hier nicht einmal mehr die ganze Absurdität eines Schulwesens, das sich fast ausschließlich über Schulabschlüsse, die Zuweisung von Lebenschancen, definiert? Wieso diskutieren wir auf allen Kanälen über eine solche Banalität wie die Dauer der Gymnasialzeit statt über die pädagogischen Möglich- und Notwendigkeiten der ersten drei Lebensjahrsiebte, in denen fast alles veranlagt wird, was eine Biographie für das weitere Leben prägt? Ein Blick nach Finnland würde genügen, um das aufgeheizte Großproblem der Schulzeitdauer ebenso pragmatisch wie unaufgeregt zu lösen: Finnische Schüler können ihre letzten vier Schuljahre je nach Neigung schneller oder langsamer durchlaufen, also zwischen zwei und vier Jahren. Die meisten brauchen drei. Und wenn sie in einem Fach durchfallen, wiederholen sie die Prüfung in diesem Fach. In diesem Licht erweist sich unser Abitur eher als Disziplinierungsinstrument denn als echte Prüfung.

Wenn ein Drittel aller pädagogisch Tätigen und eine wachsende Anzahl von Schülern unter Burn-Out-Symptomen leiden, geht es um weit mehr als um ein Schuljahr oder die ach so objektiven Standards. Es geht um unser grundlegendes Verständnis von Bildung: Wie bereiten wir die heranwachsende Generation auf das Leben in einer Welt vor, in der jeder Mensch seinen ethischen und biographischen Kompass selber schmieden muss, weil er sonst droht, die Beziehung zur Welt, zu den Mitmenschen und zu sich selbst zu verlieren? Kurz: Wie machen wir sie stark statt schwach?

Die Antwort ist so einfach wie pädagogisch anspruchsvoll: Schule muss Freude am Entdecken, an der Neugier und am Schaffen wecken. Es geht darum, Wissen aus Erfahrungen zu schöpfen und nicht um die Ansammlung toten Wissens. Das gilt für die Schüler genauso wie für ihre Lehrer. Wer die Kunst des Erfahrens und Erkennens lernt, kommt auch im Leben zurecht. Wer das für naiv hält, dem sei zum Schluss ein weiterer Satz von Einstein mitgegeben: »Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorne herein ausgeschlossen erscheint.« Wofür sonst haben wir eine Kindheit und Jugend?

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)