Macht, was ihr wollt

Henning Kullak-Ublick

Warum gibt es eigentlich die Waldorfschule? Also nicht speziell Ihre Schule, sondern ganz allgemein die Waldorfschule? Warum erlebt diese Schulform 93 Jahre nach ihrer Erfindung einen weltweiten Gründungsboom, der angesichts der manchmal extrem schwierigen Bedingungen, unter denen Waldorfschulen in vielen Ländern der Erde arbeiten müssen, kaum zu verstehen ist?

Die Antwort ist vielschichtig. Ich beschränke mich auf einen Kernsatz ihrer Pädagogik: Erziehung ist immer Selbsterziehung. Dieser unscheinbare Satz stellt eine radikale Kampfansage an alle Versuche dar, den Menschen auf ein Ziel hin zu erziehen, das nicht in seinem eigenen Wesen, sondern in wirtschaftlichen, politischen, religiösen oder anderen weltanschaulichen Zwecken begründet ist. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, das die schwedische Jounalistin Ellen Key 1900 zum »Jahrhundert des Kindes« ausrief und das der Philosoph Peter Sloterdijk heute als »das verlorene Jahrhundert« bezeichnet, bietet zahllose Beispiele dafür, wie Menschen zum Funktionieren erzogen werden sollten, statt sie zu inspirierten Gestaltern ihrer Zukunft auszubilden. Fast alle ungelösten sozialen, ökologischen und politischen Probleme unserer Zeit gehen auf Erziehungssysteme zurück, die nicht auf die Bildung freier Geister, sondern auf Kontrolle, Konkurrenz und Anpassung setzten.

Im Gegensatz dazu vertraut der Satz »Alle Erziehung ist Selbsterziehung« darauf, dass sich jeder Mensch entwickeln kann – und will, wenn man nur die richtigen Bedingungen dafür schafft. Aller­dings stellt er einen hohen Anspruch an die Lehrer und Erzieher, der nie erreicht, sondern immer nur angestrebt werden kann. Das ist sehr viel unbequemer als Standards zu erfüllen. Messen diese vor allem den Grad der Anpassung an externe Vorgaben, befragt mich jener, ob das Interesse an meinen Schülern groß genug ist, um mir etwas einfallen zu lassen, das jeden einzelnen und alle gemeinsam anfeuert.

Rudolf Steiner konzipierte die Waldorfpädagogik nicht als geschlossenes System. Er regte die Lehrer vielmehr dazu an, ihren Beruf als Kunst aufzufassen, bei dem alles Wissen und Können der Schüler aus ihrem Tätigwerden hervorgeht – wobei »Tätigwerden« als Selbstwirksamkeit ihres Denkens, Fühlens und Wollens zu verstehen ist.

Das schaffen erst Wenige und wenn, dann in besonderen Sternstunden. Aber eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist, dass die Kraft der Begegnung, das Erwachen am Anderen, in einer zunehmend fremdgesteuerten Welt zur Überlebensfrage der Menschlichkeit zu werden beginnt. Wir stehen auch nach 93 Jahren noch am Anfang einer pädagogischen Revolution, die den Menschen als aktiven Gestalter der Zukunft wirklich ernst nimmt. Von alleine kommt sie aber nicht – wir müssen sie schon wollen.

Henning Kullak-Ublick, seit 1984 Klassenlehrer (zurzeit freigestellt), Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)