Massenmenschbildung

Henning Kullak-Ublick

Schulen, Gummibärchenfabriken und Atomkraftwerke sind mehr oder weniger das Gleiche: Produktionsfaktoren einer wettbewerbsorientierten Weltwirtschaft. Sie glauben das nicht? Gehören sie noch zu jener veralteten Spezies Mensch, die Bildung und Wissenserwerb für die Entwicklung eines aufgeklärten Werte-Bewusstseins (am Ende gar des eigenen Menschentums) für wichtig halten? Sie glauben noch ernsthaft daran, dass Bildung auch noch im 21. Jahrhundert einen Wert an sich darstellt, der ohne messbare Zweckbindung auskommt?

Dann sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen, was die für die PISA-Tests verantwortliche »Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (OECD) schon in den 1960er Jahren dazu sagte: »Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.«

2007 präzisierte die OECD diese Aussagen vor dem Hintergrund der PISA-Studien, deren erklärtes Ziel es war und ist, die Bildungspolitik der Länder über vergleichende Tests und Rankinglisten aus ihrer kulturellen Verwurzelung zu »befreien« und zu vereinheitlichen. »Individuelle Fähigkeiten«, erklärte sie, seien eine »Form des Kapitals«, die wie »ein Produktionsfaktor, wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Ertrag bringen«.

Nun könnte man sich damit beruhigen, dass uns ja niemand daran hindert, unseren Schulen trotz dieses beschränkten Weltbildes pädagogisches Leben einzuhauchen. Auch profitieren wir ja durchaus von erhöhter wirtschaftlicher Produktivität, die nun mal mit der Schulbildung einhergeht. Leider stimmt das aber schon längst nicht mehr: PISA hat eine so starke normative Kraft entwickelt, dass sich fast niemand mehr dieser langfristig angelegten kulturellen Umerziehungsstrategie entziehen kann.

Die Tabelle der diesjährigen PISA-Sieger wird von China, Singapur, Korea und Japan angeführt. Diese Staaten, allen voran China, zeichnen sich durch rigorose Paukschulen mit einem gnadenlosen Selektionswesen aus. Insbesondere in China verschwindet die Kindheit, wie Erwin Wagenhofers ebenfalls 2013 erschienener Film »alphabet« eindrucksvoll zeigt, fast vollständig. Aufschlussreich ist ein Interview mit »PISA-Chef« Andreas Schleicher, der das chinesische Schulsystem als sehr effizient und zukunftsfähig lobt.

Eine Schulbildung, die ihren Erfolg immer mehr daran misst, wie erfolgreich sie unterschiedliche standardisierte Messverfahren bedienen kann, führt in letzter Konsequenz zu einer geistigen Massenmenschhaltung. Wollen wir wirklich, dass Anpassung und geldwerte Effizienz höhere Werte darstellen als Mündigkeit und soziale Verantwortung? Wir sollten uns dagegen wehren, solange wir noch merken, ob es um Gummibärchen oder um Menschen geht.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)