Ohne Maskeraden

Henning Kullak-Ublick

Nehmen wir also an, wir wollten die Schule neu erfinden und hätten dabei nur zwei Voraussetzungen: Nichts muss bleiben, wie es ist, aber wir wissen alles über die geistig-seelischen und physiologisch-konstitutionellen Entwicklungsbedingungen des Menschen, was man heute darüber wissen kann. Welche Masken würden fallen, was hinter ihnen sichtbar werden?

Eine der ersten fallenden Masken wäre zweifellos diejenige, die uns vorgaukelt, wir müssten unsere Kinder für die heutige Zeit erziehen, also für Arbeitsplätze, Karrierechancen, den Status quo. Sichtbar würde plötzlich, dass wir Erwachsenen selbst es sind, die sich für unsere Zeit erziehen müssen, wollen wir die Herausforderungen von heute nicht auf unsere Kinder abwälzen. Die Erkenntnis blinzelt hervor, dass wir die Welt mit jeder Handlung, jedem Herzschlag, jedem Gedanken verändern. Wäre daher nicht ein erster Grundsatz unserer Schule, dass die Kinder und Jugendlichen sich immer differenzierter als Handelnde, Fühlende und Denkende erleben? Dass wir sie mit allem, was wir tun, dazu anregen, diese Kräfte zu Instrumenten ihrer Wahrnehmung, ihrer Kreativität, ihres Denkens und Handelns auszubilden?

Folglich wäre die zweite fallende Maske jene, die uns vorgaukelt, beim Lernen käme es darauf an, reproduzierbares Wissen anzuhäufen. Das stammt nämlich immer aus der Vergangenheit und ist für sich genommen überhaupt nichts wert, früher nicht, und erst recht nicht in einer Zeit, in der es jederzeit und überall abrufbar ist. Hinter dieser Maske scheint ein ganz anderes Gesicht hervor: die Phantasie, jene wundersame Lehrerin des Denkens, deren milde Zauberkraft alles Gewordene ins Werdende verwandelt und die Kinder lehrt, das Denken als Aktivposten ihrer Beziehung zur Welt zu entdecken, statt längst gedachte Vorstellungsleichname zu reproduzieren.

Womit denn auch die dritte Maske fiele, die uns glauben lässt, Leistungen seien in Noten messbar und Prüfungen daher ein notwendiges Übel. Eine Leistung ist immer individuell, Noten hingegen messen den Abstand nach oben oder unten von einer ausgedachten Mitte. Eine Leistung beansprucht den individuellen Willen und ist deshalb immer eine Prüfung. Die Prüfungskultur unserer Schule würde daher den Weg vom Wünschen über das Wollen zum Können ins Blickfeld nehmen – oder jenen vom Scheitern über das bessere Scheitern bis zum Gelingen. Hinter dieser Maske blickt das Kind als Könner hervor!

Die letzte Maske gaukelt uns vor, es gebe außerhalb von etwas substanziell Wichtigem irgendein gesundes Motiv zu lernen. Hinter ihr treten viele Gesichter hervor: all jene Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Herz, kreativ, für ihre Sache begeistert und mit Liebe zu den Kindern arbeiten. Sie sind es, die wir mitsamt ihren Schwächen, ihrem Stolpern und gelegentlichem Scheitern für unsere Schule suchen, weil sie nicht Masken, sondern Menschen sind. Und nur von diesen kann man lernen!

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis.