Reifeprüfung

Henning Kullak-Ublick

Auf der Pressekonferenz des Bundes der Freien Waldorfschulen im September 2012 antwortete Schleicher auf die Frage, ob die Zufriedenheit der Waldorfschüler mit ihrer Schule und ihr gutes Abschneiden bei staatlichen Abschlussprüfungen nicht einfach ein Spiegel ihrer Herkunft sei: Der Erfolg einer Schule lasse sich niemals auf einen isolierten Faktor zurückführen. Es lohne sich aber, auf Finnland zu schauen, weil Finnlands Schulen die meisten strukturellen Übereinstimmungen mit den Waldorfschulen aufwiesen. Finnland ging bekanntlich mehrmals als »PISA-Sieger« durch die Schlagzeilen. Besonders charakteristisch für den Erfolg der finnischen Schulen sei, so Schleicher, dass dort »die staatlichen Schulen mehr Freiheit haben als hierzulande die freien Schulen«.

Hat unsere Schulpolitik von Finnland gelernt? Im Oktober verständigten sich die Kultusminister darauf, bis 2017 gemeinsame Abiturstandards in allen Bundesländern einzuführen. Das ist durchaus konsequent und folgerichtig gedacht, so lange das Abitur hauptsächlich auf der Messung des Abstands zwischen behördlichen Erwartungen und deren Erfüllung durch die Schüler basiert: je kleiner die Differenz, desto besser die Note. Und weil diese inzwischen im Kommastellenbereich über die weitere Ausbildung entscheiden kann, sollen einheitliche Prüfungen mehr Gerechtigkeit bringen. Ein Blick nach Finnland hätte allerdings gezeigt, dass man auch standardisierte Prüfungen lebensnah organisieren kann: Wer dort in einem Fach nicht die nötige Punktzahl erreicht, kann sich gezielt nachprüfen lassen; die übrigen Fächer gelten als bestanden. Wer hierzulande beim Abitur »versagt«, muss gleich alles wiederholen. Was für eine Verschwendung von Arbeitsfreude und Lebenszeit!

Doch die Vereinbarung der Kultusminister zeigt trotz ihrer inneren Logik einen erstaunlichen Unwillen: den Unwillen, über den eigentlichen Sinn von Abschlussprüfungen nachzudenken. Von den Waldorfschulen könnten sie lernen, wie man mit innovativen Prüfungsformen die eigenständigen Leistungen der Schüler in den Mittelpunkt stellt: Bewertet wird, was sie können und nicht, was sie nicht können. Abschlussportfolios dokumentieren individuelle Leistungen. Erst die Würdigung dieses individuellen Engagements kann das Abitur von einem inhaltslosen Herrschaftsinstrument zu einer echten Prüfung weiterführen, in der Vergleichbarkeit und Individualisierung ihren Platz haben. Freiheit ist der beste Schutz vor Willkür.

Übrigens belegten 2012 die Abiturienten der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Harburg mit einem Notendurchschnitt von 1,8 im Hamburger Schulvergleich Platz 1. Andreas Schleicher war offenbar kein Einzelfall.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)