Systemrelevante Werte

Henning Kullak-Ublick

Es sind unglaubliche politische und finanzielle Anstrengungen unternommen worden, um die »systemrelevanten« Banken zu retten. Mit der Wiedervereinigung von Ost und West und dem anschließenden zweiten Wirtschaftswunder hat Deutschland mit einem vergleichbar großen Kraftaufwand eine Gestaltungsaufgabe vollbracht, auf die wir nicht nur stolz sein, sondern von der wir etwas für die Bewältigung der Flüchtlingskrise lernen können. Die Flüchtlingsströme werden uns erhalten bleiben, dafür sorgen die globalen Finanzhasardeure ebenso wie die Despoten und ihre islamistischen Widersacher im Nahen und Mittleren Osten, ob das die Rechtsextremisten Europas nun wahrhaben wollen oder nicht.

Die Bundesregierung rechnet bis 2020 mit 3,6 Millionen Flüchtlingen. Wir brauchen daher eine Bildungsoffensive, die der Bankenrettung und Wiedervereinigung ebenbürtig ist. Dabei geht es keineswegs nur um die Integration der Flüchtlingskinder, sondern um eben jene Werte, die die »besorgten« Hüter eines deutschnationalen Reinheitsgebotes so vehement ins Feld führen, wenn sie mal wieder die Grenzen dichtmachen wollen. Kulturtragend werden diese Werte nur, wenn sie gelebt werden. Die Verantwortung dafür liegt mitten in der Zivilgesellschaft, und das ändert alles.

Wir werden die Bildungsoffensive nur hinbekommen, wenn wir uns von der bequemen Vorstellung befreien, der Staat werde es schon richten. Der muss allerdings dafür sorgen, dass die gewaltigen Steuereinnahmen, über die Deutschland verfügt, wieder in die Zivilgesellschaft eingespeist werden, um vor Ort neue Bildungsangebote entstehen zu lassen und nachhaltig abzusichern. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung sind schon heute 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen, besonders in Bremen, Sachsen-Anhalt und Leipzig, Tendenz steigend. Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, schätzt, dass die Flüchtlingskinder diese Zahl um weitere 500.000 erhöhen werden. Deshalb schlug er bereits 2014 vor, jedem Kind eine Grundsicherung von 500 Euro im Monat zu garantieren.

So richtig dieser Vorschlag ist: Er braucht die Erweiterung zu einem Bildungspakt zwischen gemeinnützigen freien und staatlichen Trägern, Stiftungen, der Industrie und anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen, die Bildungsinitiativen fördern und armen Familien den kostenlosen Zugang auch zu nichtstaatlichen Schulen, Kindergärten oder Freizeitangeboten ermöglichen. Systemrelevante Banken konnte der Staat mit unseren Steuergeldern retten; unsere »systemrelevanten Werte« bedürfen der handelnden Menschen vor Ort. Die staatlichen Finanzhilfen müssen sich im Bildungswesen an der Nachfrage durch die Eltern und nicht an »staatlich« oder »nichtstaatlich« orientieren. Auf der Skala unserer Werte steht »mündig« sehr weit oben!

Henning Kullak-Ublick,von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis