Verlust und Vertrauen

Henning Kullak-Ublick

Noch heute kann man in einigen entlegenen Weltgegenden Mütter sehen, die, nicht mal zwanzig Jahre alt, ein Baby auf dem Arm, ein Kind an der Hand und eins am Bein, in völliger Unkenntnis unserer Buchläden füllenden Erziehungs-, Gesundheits-, und Geburtstagspartyratgeber durchs Leben gehen – oder stolpern sie? Zurückgekehrt, den Blick nach bestandenem Reiseabenteuer über das grauhaarige Meer einer geordneten deutschen Einkaufsstraße schweifen lassend, stellt sich die Frage ein: »Wieso können diese jungen Mütter eigentlich Kinder erziehen? Dürfen sie das überhaupt?«

Was ist nur los mit uns? Vor einiger Zeit hörte ich im Radio einen ecuadorianischen Sozialforscher über den Unterschied von Freundschaft und Familie in Lateinamerika und Deutschland erzählen: Während in seinem Heimatland fast alle Freunde aus der Familie stammten, ersetzten hierzulande immer öfter die sozialen Kontakte die Verwandten.

Als ich 1984 zum ersten Mal eine 1. Klasse übernahm, hatten wir immer Probleme damit, Kinder aus »neuen« Familien aufzunehmen, weil die Klassen schon mit den Geschwistern überfüllt waren. Und obwohl noch immer überdurchschnittlich viele Kinder aus größeren Familien eine Waldorfschule besuchen, gibt es dieses Problem kaum noch, während die Zahl der Kinder, die mit nur einem Elternteil zusammenwohnen, kontinuierlich wächst.

Als Lehrer merkt man die Verunsicherung bei der Kindererziehung, besonders bei Eltern, die auf das eigene Kind fixiert sind. Jeder Schritt, den es tut, jede Regung, die es spürt, wird so groß, dass es kaum noch die Möglichkeit hat, unbefangen eigene Erfahrungen – zu denen auch Frustrationen gehören – zu sammeln. Die Ratgeberwelle schwimmt auf dieser wachsenden Ratlosigkeit, während das Erfahrungswissen verloren geht. Wie kommen wir da wieder raus?

Wenn das soziale Umfeld für viele Kinder immer öfter an die Stelle der Familie tritt, müssen wir Gemeinschaften bilden, in denen eine Atmosphäre des Vertrauens, der Verlässlichkeit und der Geborgenheit für die Kinder entsteht. Das stellt hohe Anforderungen an Lehrer und Eltern, denn diese Atmosphäre muss immer wieder neu durch den unbefangenen Blick auf das einzelne Kind und auf die Gemeinschaft geübt werden. Beide bedingen einander ebenso, wie sie sich brauchen. Der beste Ratgeber bleibt dabei das Interesse am anderen Menschen. Und davon haben die Kinder der jungen Mutter in einer entlegenen Weltgegend vielleicht mehr als manch ein rundum versorgtes deutsches Kind, das nur noch funktionieren darf.

Henning Kullak-Ublick, von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)