Willkommen in der Räuberschule!

Henning Kullak-Ublick

Nachdem nun auch die letzten aus hoffentlich schönen Sommerferien zurückgekehrt sind, können wir uns endlich wieder ans gemeinsame Rauben machen. Besteigen wir unser Piratenschiff und stechen wir zu neuen Abenteuern in See, entdecken neue Länder, entern, brandschatzen und plündern und schleppen unsere Beute auf unsere sagenumwobene, unzugängliche Insel mit ihren Geheimverliesen.

Vielleicht denken Sie jetzt, mir sei eine bildhafte Begrüßung etwas schräg geraten. – Ist sie das? Schicken Sie Ihre Kinder nicht auf eine Privatschule? Ist »privare« nicht das lateinische Wort für rauben? Wem rauben wir also was? Den anderen Schulen die Kinder? Oder die Lehrer? Oder die engagierten Eltern? Oder dem Rest der Bevölkerung vielleicht eine bessere Startposition für ein erfülltes Berufsleben? Und sind wir nicht tatsächlich Inseln inmitten eines rauer werdenden Meeres? Haben diejenigen recht, die den Waldorf- und anderen freien Schulen vorwerfen, sie verstärkten die soziale Spaltung der Gesellschaft, indem sie sich die Rosinen herauspickten und den »Rest« dem Staat überließen? Trifft es etwa nicht zu, dass wir viel zu wenige Kinder aus Migrantenfamilien oder gesellschaftlichen Problemgruppen erreichen?

Was auf den ersten Blick durchaus schlüssig erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen allerdings als eine Verwechslung von Ursache und Wirkung: Die Spaltung geht nicht von den freien Schulen aus, sondern wird von Schulgesetzen hervorgebracht, welche die staatlichen Schulen kurzerhand zum Normalfall, alle freien Schulen hingegen zum privaten Ersatz erklären. Dafür, so die Logik, kann man dann auch privat bezahlen. Staatlich bezuschusst wird nur zwischen 60 und 80 Prozent.

Goethe ließ den Erdgeist im Faust die Worte sprechen: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst.« Begreifen wir also und nehmen wir Abschied von dem unsinnigen Begriff »Privatschule«. Niemandem wird etwas geraubt, wenn Menschen aus freiem Entschluss gesellschaftliche Verantwortung für eine Schule übernehmen. Freie Schulen leben nicht vom Wegnehmen, sondern von dem Engagement ihrer Eltern, Lehrer und Schüler, kurz: vom Schenken. Über Solidargemeinschaften sorgen sie dafür, dass auch Kinder, deren Eltern das Schulgeld nicht in voller Höhe aufzubringen vermögen, ihre Schule besuchen können.

Wenn die Länderparlamente sich von den Eltern die Wahl einer freien Schule teuer abkaufen lassen und sie dadurch erst in eine private Ecke drängen, wenn sie damit zugleich pädagogische Initiative und einen fairen Wettbewerb um die besseren Schulen verhindern: Wer sind dann eigentlich die Räuber – am Elternrecht, an der Chancengleichheit und nicht zuletzt an Steuergeldern? Staatlich oder privat ist längst nicht mehr die Alternative, sondern zentralistische Steuerung oder pädagogische Pluralität. Dafür brauchen wir viele Inseln, frei zugänglich und in guter Nachbarschaft.

Link: http://www.iwkoeln.de/Portals/0/PDF/trends02_11_6.pdf

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)