Mit dem Sarg durch Freudenstadt

Karin Schmidtke

Nein, man kann aufatmen, niemand starb. Die zwölfte Klasse der Freien Waldorfschule führte im Oktober ein Theaterstück auf. Als Schauplatz diente die Theaterbühne in der Falkenrealschule. Auf dem Programm stand eine ganz besondere Inszenierung, die »Biografie: Ein Spiel« von Max Frisch. Ein anspruchsvolles, aber mit reichlich Ironie gewürztes Theaterstück, das am Freitag 10.10.2014 vor der Mittel- und Oberstufe aufgeführt wurde, einschließlich einer Klasse Austauschschüler aus Kiew. Am Samstag und am Sonntag fanden die öffentlichen Vorstellungen statt, die eine große Resonanz hervorriefen. 

Seit den Sommerferien probten die neun Schüler ihr »Zwölft-Klass-Stück« – ganztägig und gegen Ende sogar oft bis in die Abendstunden. Neun Schüler plus eine Statistin besetzten 36 Rollen.

»Im Backstagebereich ging es zu wie bei einer Modeschau. Anziehen, ausziehen, wieder anziehen und das in einer oft wahnsinnig kurzen Zeit«, berichtete Regisseurin Rosa Maria Paz vom geschäftigen Treiben hinter den Kulissen. Die charmante und jugendlich wirkende Schauspielerin aus Freudenstadt war hellauf begeistert von ihrem tatkräftigen Darstellerteam. Wochenlang wurde nicht nur geprobt. Flyer und Plakate wurden entworfen und gestaltet, Einladungen verschickt. Die moderne Kulisse musste durchdacht und realisiert werden. Etliche Ideen wurden vorgebracht, das Machbare setzte man um. Zeitgemäße Requisiten, Kostüme und Utensilien wurden angeschleppt. Die Elternhäuser unterstützten die Mammutaktion, das Klassenzimmer wurde zum Probesaal. Unter vielem anderem wurden ein Rollstuhl und ein Spinett gebraucht, ein Krankenbett und eine Couchgarnitur, ein Schreibtisch, Arztinstrumente – und schließlich konnte von einem Beerdigungsinstitut ein Sarg ausgeliehen werden.

Wie wäre es, wenn man Passagen in seinem Leben wiederholen könnte, so dass man seine eigene Biografie ändert? Im Leben utopisch, auf der Bühne ist dies möglich. Die Handlung dreht sich um den todkranken Hauptdarsteller Hannes Kürmann, dessen distinguierter Charakter von Louis Schmidtke fabelhaft gespielt wurde. Seitenlang waren die Textpassagen, die der Schüler auswendig beherrschen musste. Darüber hinaus glänzte der junge Mann mit Gestik und evidenter Ausdruckskraft. Louis Schmidtke besucht seit der ersten Klasse die Freie Waldorfschule in Freudenstadt. Der Figur Kürmann zur Seite stand die Rolle des Spielleiters, überzeugend gespielt von Lorenz Jeric (zwei Rollen) und nach der Pause von Pius Müller (fünf Rollen). Der Spielleiter, Teil des Stückes, griff durchaus aktiv in die Handlungen ein, mischte sich in Kürmanns Handeln ein. Wäre ein Leben für den berühmten Verhaltensforscher Kürmann ohne seine Gattin Antoinette möglich? Überaus charmant, selbstbewusst und ästhetisch spielten Awa Schnidrig (drei Rollen) und später Hannah Stroppel (fünf Rollen) die Gestalt der Antoinette. Im Spiel reiste man in Zeiten und zu Szenen, die neu gespielt, geändert, wiederholt, besprochen und schließlich gebilligt wurden. Die vielen weiteren, teils farbenprächtigen, teils bewusst schlicht gehaltenen Figuren, wurden von Caroline Schmelzle (vier Rollen), Erik Häußler (fünf Rollen), Annafrid Janzen (fünf Rollen) und Jule Wurster (vier Rollen) exzellent gespielt. In der Nebenwohnung probte lautstark eine Ballettschule und später grölte eine Sekte Halleluja im Hintergrund. Seine Militärzeit wollte Kürmann nicht zurück haben, dennoch trampelte eine Armee über die Bühne. Neben Liebesdramen Kürmanns starb seine Mutter und der Vater outete sich als trinkender Bäcker. Jede Identität auf der Bühne schien ihren passenden Spieler bekommen zu haben. Die Handlung nahm ihren tragikomischen Lauf, blieb stets spannend und begeisterte das Publikum durch alle Vorstellungen. Bis zum Schluss schaffte es Hannes Kürmann nicht, sonderlich Einfluss auf seine Biografie zu nehmen. Nur Antoinette, die einmal die Chance auf eine Veränderung bekam, gelang es, rechtzeitig Kürmann zu verlassen.

Priska Girrbach aus der 13. Klasse sprang als Statistin ein. Für eine stimmungsvolle Lichttechnik der unterschiedlichen Szenen sorgten Matthäus Schneider und Miguel Paz. Besonders die Gefängnisszene wurde authentisch und stark in einem kühlen blauen Licht illuminiert. Lorenz Münch spielte die Tonabschnitte ein und Luis Kepplinger projizierte an den passenden Stellen Lichtbilder politischer Ereignisse aus den jeweiligen Zeiten in die Kulisse ein. Am Klavier begleitete Erik Häußler einige Passagen musikalisch.