Traditionen über Bord werfen. Ein staatlich-waldorfpädagogischer Schulversuch in Hamburg

Erziehungskunst | Frau Leiste, das Kollegium der Grundschule Fährstraße votierte mehrheitlich dafür, einen Schulversuch mit dem »Verein für Interkulturelle Waldorfpädagogik« in Wilhelmsburg zu wagen. Wie werden aus staatlichen Grundschullehrern Waldorfpädagogen?

Christiane Leiste | Es geht bei diesem Schulversuch nicht darum, aus »Staatsschullehrern« Waldorflehrer zu machen oder umgekehrt. Vielmehr geht es darum, die pädagogischen Konzepte des Anderen mit gegenseitigem Interesse und Respekt wahrzunehmen und die unterschiedlichen Anliegen und Ansätze zu verstehen. Ich habe mich in den letzten zwei Jahren intensiv mit der Pädagogik der Regelschulen beschäftigt und festgestellt, dass es hier viel Interessantes zu entdecken gibt. Beispielsweise sind in der modernen Fremdsprachendidaktik für die Primarstufe viele Methoden entwickelt worden, von denen sich mancher Fremdsprachenlehrer an Waldorfschulen etwas abgucken kann.

Wir wünschen uns natürlich, dass die Fährstraßenlehrer sich auf vieles von dem einlassen, was wir in der Waldorfpädagogik als wichtig empfinden. Wieviel das sein wird, ist noch offen, das wird sich mit der Zeit zeigen. Dazu müssen wir auch die Waldorfpädagogik immer wieder auf den Prüfstand stellen und überlieferte Traditionen über Bord werfen.

EK | Bei Schulsenator Ties Rabe (SPD) stießen Sie mit Ihrem Vorhaben, eine Waldorfschule in dem Viertel zu gründen, zunächst auf Skepsis. Was stimmte ihn dann um?

CL | Die Skepsis des Senators beruhte auf der Befürchtung, dass die bildungsorientierteren Eltern, die es in Wilhelmsburg auch gibt, diese Schule wählen könnten, um ihren Kindern mehr Bildungschancen zu ermöglichen. In gewisser Weise würden sie ihre Kinder dadurch von den bildungsbenachteiligten Kindern trennen und diese noch mehr ihrem Schicksal überlassen. Jemand aus der Schulbehörde sagte zu uns in der Anfangszeit: »Wenn Sie eine freie Waldorfschule in Wilhelmsburg gründen, gründen Sie eine Insel auf der Insel, aber nicht für die Insel.« Anmerkung für Unkundige: Wilhelmsburg liegt auf der größten Flussinsel Europas und hat innerhalb der Stadt Hamburg somit einen Inselstatus. Das gab uns zu denken. Wir wollten aber unbedingt auf der Insel pädagogisch aktiv werden und zwar gerade auch für die bildungsbenachteiligten Kinder. Daher kam vom Schulamtsleiter Norbert Rosenboom die Idee, mit einer Regelschule zusammenzuarbeiten und dort waldorfpädagogisch wirksam zu werden.

Wir fanden das Angebot der Behörde interessant und sind darauf eingegangen. Das erste halbe Jahr arbeiteten wir nur mit der Behördenspitze zusammen, um abzuwägen, ob ein Zusammengehen wirklich denkbar sei. Wir saßen jeden zweiten Mittwochnachmittag in der Schulbehörde und erzählten, was aus unserer Sicht Waldorfpädagogik sei und was wir davon umsetzen möchten. Erstaunlicherweise stießen wir zu großen Teilen auf Zustimmung. Nach einem halben Jahr waren wir uns weitgehend einig. Aber es war auch klar, dass wir nicht eine staatlich finanzierte Waldorfschule machen würden, sondern wir einigten uns sozusagen auf fifty-fifty.

EK | Was wird die erste Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft von einer normalen Waldorfschule unterscheiden? Wird es ein Grundkonzept mit feststehenden Waldorfelementen geben?

CL | Zunächst einmal ist der Begriff Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft nicht richtig. Es wird eben keine klassische Waldorfschule, sondern es ist ein Schulversuch, der die besten Elemente der beiden Pädagogiken zusammenbringen soll. Wie das aussehen kann, werden wir nach vier bis sechs Jahren praktischer Erprobung genauer wissen.

Es wird viel davon abhängen, welche Lehrer in Zukunft an die Schule kommen und wieviel Beweglichkeit und Begeisterungsfähigkeit sie mitbringen. Es wird darum gehen, Freiräume zu nutzen und etwas zu schaffen, das den Kindern in Wilhelmsburg gerecht wird.

Die Klassen sind geprägt von äußerster Heterogenität. 90 Prozent der Kinder haben eine Migrationsgeschichte. Viele kommen aus Osteuropa, der Türkei oder Russland. Es sind viele Roma darunter. Andere kommen aus Afghanistan, Iran oder verschiedenen afrikanischen Ländern. Jedes Kind bringt ein Schicksal mit, das sich von dem unserer »normalen Waldorfkinder« sehr unterscheidet. Einige Familien in der Fährstraße kommen aus einem albanischen Dorf, das von Banditen vollkommen zerstört wurde.

Ein Junge aus Syrien erzählte mir traurig, dass er nicht nach Hause zurück könne, weil dort Krieg ist. Ein iranischer Junge lebt im Kinderheim. Sein Vater ist drogenabhängig und abgehauen, was mit seiner Mutter ist, habe ich noch nicht erfahren … Viele Kinder sprechen kaum bis gar kein Deutsch. Die Mitschüler müssen im Unterricht beim Übersetzen helfen. Das ist eine bunte, lebensvolle, starke Mischung und es ist sehr anspruchsvoll, hier zu unterrichten, aber es macht auch großen Spaß.

Vieles aus der Waldorfpädagogik ist für einen interkulturellen Ansatz absolut geeignet. Zum Beispiel das Klassenlehrerprinzip, das den Kindern einen Schutzraum und eine Heimat gibt, die sie zu Hause oft nicht haben. Oder das rhythmisch-musikalische Element, das die Sprache pflegen und die Kinder harmonisieren kann. Außerdem träumen wir von herkunftssprachlichem Unterricht, vertieftem Deutschunterricht für alle Kinder, die Deutsch nicht als Erstsprache haben, interkulturellem Fachunterricht … Die Mannheimer Interkulturelle Waldorfschule hat in dieser Richtung schon viel erarbeitet, von dem wir profitieren können.

EK | Der Bund der Freien Waldorfschulen begrüßt die Hamburger Pläne, befürchtet jedoch, dass die Hamburger Schulaufsicht sich zu sehr in die inhaltliche Arbeit einmischen könnte.

CL | Da wir eine staatliche Schule sind, sind wir an das Hamburger Schulgesetz und den Hamburger Rahmenplan gebunden. Dieser lässt aber viele pädagogische Freiräume. Auch hier gibt es ein Vorbild für uns: Die staatliche Albert Schweitzer Schule, die schon seit 1950 waldorfpädagogisch arbeitet und dies auf hohem Niveau!

Wenn wir gute Arbeit leisten, wird sich wahrscheinlich niemand obrigkeitlich einmischen. Aber gut beobachtet wird das Ganze schon. Von beiden Seiten vermutlich. Die Zusammenarbeit mit dem Bund der Freien Waldorfschulen ist für uns elementar wichtig zur Stärkung der waldorfpädagogischen Elemente.

EK | Zur Zeit arbeitet eine Konzeptgruppe regelmäßig an der inhaltlichen Ausgestaltung. Welche Kompromisse müssen Sie aus Sicht einer erfahrenen Waldorflehrerin machen?

CL | Wir sind mit der Konzeptgruppe noch sehr am Anfang. Auf ein paar Grundsätze haben wir uns aber schon geeinigt. Zum Beispiel wird es Haupt- und Epochenunterricht geben. Wir wollen auf die künstlerische und handwerkliche Arbeit einen Schwerpunkt legen.

EK | Die Schule wird staatlich voll finanziert, die Lehrer sind staatlich angestellt, es wird einen Direktor geben. Wie sieht es mit der kollegialen Selbstverwaltung – einem Kernelement aller Waldorfschulen – aus?

CL | Auch hier ist noch nichts entschieden. Die derzeitige Schulleiterin wird im Sommer pensioniert, und es steht noch nicht fest, wer die Schulleitung übernimmt. Alle wünschen sich jemanden, der sehr teamfähig ist und gut mit dem Kollegium zusammenarbeitet, damit die Schule nicht zu sehr von oben nach unten »regiert« wird. Vielleicht wird es auch ein Schulleitungsteam geben, jemanden, der mehr aus der Waldorfrichtung kommt und hier sehr kompetent ist, und jemanden, der mehr aus der Regelschule kommt und sehr innovativ ist.

Unser Verein ist im Findungsausschuss vertreten, so dass wir auch hier Mitspracherecht haben. Wir suchen übrigens auch noch dringend nach Waldorfklassenlehrern und einem Eurythmielehrer, die das zweite Staatsexamen haben.

Christiane Leiste ist Waldorflehrerin und Projektleiterin der Initiative Interkulturelle Waldorfpädagogik Wilhelmsburg. Seit Februar 2013 arbeitet sie an Schulen im Hamburger Brennpunkt Wilhelmsburg, seit Februar 2014 in der Ganztagsschule Fährstraße. Die Fragen stellte Mathias Maurer.