Tugendregime

Lorenzo Ravagli

Plato entwickelte seine Staatslehre aus einer Anthropologie der Tugenden, die im Zentrum der »Politeia« steht. Aristoteles vermochte Tugenden gar nicht anders zu denken, denn als staatsbürgerliche Tüchtigkeiten, die sich am Gemeinwesen für das Gemeinwesen bilden. Die beste Staatsform war für beide die Herrschaft der Tugendreichsten, die Ursache des gesellschaftlichen Verfalls lag in der schrittweisen Inversion des Besten in sein Gegenteil: in Dummheit, Angst und Gier.

Die christliche Ära schrieb diese Grunderzählung fort, sosehr sie sich auch vom Heidentum abzusetzen versuchte. Augustinus ließ den Gottesstaat aus spezifisch christlichen Tugenden hervorgehen und deutete den irdischen Staat als Reich der Untugend. Trotz ihrer kapriziösen Religionskritik vermochte die Aufklärung den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem guten Leben des Einzelnen und der guten Gesellschaft nicht aufzulösen, sie versuchte ihn lediglich einmal mehr aus der menschlichen Vernunft zu begründen. Auch die demokratischen Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts fußen, ebenso wie ihre totalitären Gegenbilder, auf einer Anthropologie kontrovers definierter Tugenden.

Selbst das deutsche Grundgesetz verankert das Selbstverständnis des Staates und damit der Gesellschaft in ihnen: in der Achtung und dem Schutz der menschlichen Würde, im Bekenntnis des »deutschen Volkes« zu unveräußerlichen Menschenrechten, zu denen die persönliche Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Verpflichtung des Eigentums gegenüber dem Gemeinwohl gehören.

»Alle staatliche Gewalt«, heißt es im Artikel 1, ist der Tugend der Achtung verpflichtet. Die Präambel der Verfassung spricht sogar von der »Verantwortung« des deutschen Volkes »vor Gott und den Menschen«. Wer also als Bürger dieses Staates ein gutes Leben im Sinne des Grundgesetzes führen will, sollte die von ihm vorausgesetzten und angesprochenen staatsbürgerlichen Tugenden im Bewusstsein seiner »Verantwortung vor Gott und den Menschen« achten und sie seinem individuellen Lebenswandel zugrunde legen. Diese Verantwortung und die Achtung der Menschenwürde gehen der Aufzählung der individuellen Freiheitsrechte sogar voraus, sie bilden daher den Rahmen, in den letztere eingebettet sind, der zugleich die Grenze darstellt, die ihnen gesetzt ist, eine Grenze, die zum Beispiel in Artikel 2 zum Vorschein kommt, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur insoweit zulässt, als sie »die Rechte anderer nicht verletzt« oder nicht »gegen das Sittengesetz« verstößt. Das »Sittengesetz« wird vom Grundgesetz vorausgesetzt und über seinen konkreten Inhalt darf gestritten werden, da es von ihm nicht näher definiert wird. Damit weist das Grundgesetz mit seinem Tugendkatalog, ebenso wie mit seiner Präambel und Artikel 1 auf einen normethischen Raum, der jenseits seiner selbst liegt und von der Gesellschaft, die sich in seinem Geltungsbereich bewegt, ausgehandelt werden muss. Diesem normethischen Raum gehört auch die Würde des Menschen an, die nicht von der »staatlichen Gewalt« abhängt, sondern diese vielmehr legitimiert, da die Achtung und der Schutz dieser Würde der Daseinszweck dieser »Gewalt« ist.

So gesehen kommt der »Tugend«, die heute so gerne belächelt wird, für das Selbstverständnis Deutschlands eine zentrale Bedeutung zu, von ihr hängt geradezu die Existenz der Gesellschaft ab. Ähnliches ließe sich aber auch für andere europäische und außereuropäische Gesellschaften sagen. Überall, wo sich Gemeinwesen bilden, Agglomerate von Individuen, die sich eine Verfassung geben und sich als inkludierendes Ganzes verstehen, werden solche Tugenddiskurse geführt.

Moralpolitik

Da Tugend ein moralischer Begriff ist, sind die gesellschaftlichen Debatten entsprechend moralisch aufgeladen, heute mehr denn je. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Debatten besteht in Auseinandersetzungen darüber, was man tun oder sagen darf. Entscheidungen darüber, was man tun und sagen – möglicherweise sogar denken – darf und was nicht, setzen Normen voraus und eben diese Normen des gesellschaftlichen Lebens werden im öffentlichen Diskurs verhandelt. Darf man Eltern dazu zwingen, ihre Kinder impfen zu lassen? Darf man Mütter dazu zwingen, sich möglichst früh nach der Geburt eines Kindes wieder in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einzugliedern? Darf man Menschen auf Verlangen töten? Darf man mit »Rechtsextremen« reden? Muss man angeblich unwissenschaftliche medizinische Praktiken dulden oder sollte man sie nicht besser verbieten?

Häufig wird in diesen Debatten die menschliche Würde ins Feld geführt, weniger häufig werden sie würdevoll geführt. Manche Politiker, wie der ehemalige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, beklagen eine »Verrohung« der politischen Kultur in Deutschland, das Klima der »Einschüchterung und Gewalt«, von dem der Wettbewerb der Parteien bestimmt werde. Von der Debatte über Flucht und Migration spricht er sogar als einem »moralischen Kampfgebiet«. Nach Steinmeiers Diagnose unterliegen die Tugenden des gesellschaftlichen Umgangs einem Erosionsprozess. Die Ursache dieses Prozesses ist seiner Auffassung nach in »radikalen Brüchen« zu suchen, die vor allem durch technologische und ökonomische Entwicklungen (Digitalisierung, Wohlstandsgefälle) hervorgerufen werden und in der Verunsicherung, die mit deren Folgen einhergeht. Als Therapie schlägt er den »Lernprozess« vor, den die Demokratie als offene Form der Gesellschaft darstelle.

Auch von ihm also werden Tugenden beschworen: Offenheit und Lernbereitschaft, schließlich Toleranz: »Wer nur auf Kundgebungen geht, um andere am Reden zu hindern, der wendet sich gegen die offene Debatte, die er einfordert ... Gerade wer zornig und anderer Meinung ist, sollte selbst das Wort ergreifen, statt andere zum Schweigen bringen zu wollen.«

Aber eine zivilisierte Debattenkultur beseitigt nicht die Ursachen der Verunsicherung. Vielmehr müssen wir uns fragen, ob die »Verrohung« der politischen Kultur nicht eine Folge eben dieser politischen »Kultur« ist.

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