Visionen für eine gerechtere Welt

Simon Marian Hoffmann

»Es lebe die Demokratie« – diesen Satz wird nahezu jeder unterschreiben können. Doch was bedeutet »Demokratie«? Man kann darüber streiten, in wie vielen Staaten der Welt wirkliche Demokratie herrscht oder ob sie überall sinngemäß eingesetzt wird. Doch es gibt einen Punkt, der momentan dringender erscheint und der bei der »Herrschaft des Volkes« immer wieder vergessen wurde.

Wirft man zum Beispiel einen Blick auf die Bundesrepublik, so stellt man fest: Jede Minderheit, jede Weltanschauung, jede Sexualität, jedes Alter oder Geschlecht wird vertreten oder kann zumindest über Lobbyverbände auf die Politik Einfluss nehmen. Nur an einen Teil der Bevölkerung, an etwa zehn Prozent, wurde nicht gedacht, ihr fehlt jeglicher auf Eigeninitiative beruhender politischer Einfluss: die Jugend. Manche werden denken: Wozu braucht die Jugend denn politischen Einfluss? Ist sie denn nicht schon durch die Jugendsektionen der Parteien genug vertreten? Sie hat doch andere Themen wie Schule, Medien, Hobbys und muss erst mal die Welt kennenlernen? Wie kann man von ihr erwarten, diese mitzugestalten? Genau diese Sichtweise hindert die Jugend, ihre Rechte wahrzunehmen. In der Schule, den Medien und den Hobbys wird dieses Bild propagiert oder zumindest unhinterfragt übernommen.

Doch in jedem Menschen steckt von Anfang an der Wille, sich zu zeigen, zu beteiligen und seinen Teil zum Gelingen unserer Gesellschaft beizutragen. Worum es hier geht, kann von keiner Jugendsektion, die schon die zukünftigen Politiker auf Parteinorm trimmt, und von keinem Verein, der von Erwachsenen geführt wird, mit Leben erfüllt werden. Es geht um die Selbstständigkeit und Freiheit der Jugend, in Bildung und Politik aus eigener Initiative handeln zu können. Denn sie sind es, die den »Laden« übernehmen werden und alle Erblasten der Vorgeneration tragen müssen.

Gefangene Jugend – immenses Potenzial

Wer wird es als gerecht ansehen, der kommenden Generation jegliches Recht auf ein Veto oder eine Mitkontrolle heutiger Entscheidungen zu versagen? Eine verantwortliche Politik sieht in der Jugend das Potenzial, vieles besser zu machen, weil von ihr, und nur von ihr, die zukunftsweisenden Impulse in unsere Welt kommen, die sie so dringend benötigt.

Ein Großteil der heutigen Jugendlichen ist weit von einem solchen Impuls entfernt. Doch das mag daran liegen, dass man sie dazu erzogen hat und sie sich nicht in Freiheit entfalten konnten. Wie soll man Zukunftsweisendes von einem jungen Menschen erwarten, wenn in seiner Welt das Wichtigste die fremdbestimmten Prüfungen in der Schule sind und nicht die Realisierbarkeit von Frieden, einer gesunden Natur und einer glücklichen Menschheit anstelle des allgegenwärtigen Hungers, eines kranken Geldsystems, ungerechter Ressourcenverteilung oder der Unterhöhlung unserer Demokratie durch Großkonzerne? Wie soll man der Jugend ihre Lethargie verübeln, wenn es kaum Vorbilder gibt, die den Funken des Mutes in ihren Herzen entzünden, sodass sie von allein dem Drang folgen könnten, wirklich in die Welt zu schauen. Die Jugend ist in ihrer eingeschränkten Welt gefangen, und damit ihr immenses Potenzial, die Welt grundlegend verändern zu können.

Ein Forum zur Mitgestaltung

Wir brauchen eine unabhängige, demokratisch gewählte Institution aus Jugendlichen, damit die Jugendlichen beobachtend, beratend und belebend auf die Gesellschaft einwirken und ihre Impulse frei äußern können. Eine Institution, die sich um die Rechte, Belange, Nöte und die Zukunft der Jugend kümmert, die Demokratie weiterentwickelt und mit ihren Projekten und Veranstaltungen auf für die Jugend wichtige Themen hinweist. Wir brauchen eine konfessionell und parteipolitisch unabhängige, stets junge Gemeinschaft, die über die Zukunft wacht und in einem nachhaltigen Sinne mitgestaltet. Erste Anfänge sind gemacht. Einige Jugendliche haben den Verein »Demokratische Stimme der Jugend« gegründet, in den sich kein Erwachsener einmischen wird. Er steht allen Jugendlichen bis zum 28. Lebensjahr offen. Unser erstes Thema ist die Bildung. Wir wollen eine Bildung, durch die die Jugend endlich ihrer »Bestimmung« folgen oder überhaupt erst entdecken kann.

Selbstbestimmtes Lernen ohne Prüfungsdruck

Um was geht es in der Schule? Eigentlich um die Schüler, oder? Wagt man heute einen Blick in die Klassenzimmer, findet man viele motivationslose Schüler und genervte Lehrer. Mit Druck und straffen Zeitplänen soll – je höher die Klassen, desto deutlicher – den jungen Menschen möglichst viel Stoff vermitteln werden, damit sie … Ja, damit sie was? Damit sie eine Prüfung ablegen, die dokumentieren soll, dass sie etwas können? Doch was können diese Schüler wirklich? Auswendig lernen und vorgekautes Wissen wiedergeben? Sie sind gut darin, sich zu verstellen und es anderen recht zu machen. Sie sind gut darin, vor einem Problem zu stehen und dann eine Lösung zu finden, die von den Lehrern erwartet wird. Sie funktionieren und identifizieren sich nicht mit dem, was sie tun, da es fremdbestimmt ist. Kann so ein nachhaltiger Lernprozess aussehen?

An unseren Schulen sind die Schüler per se die Passiven, mit ihnen passiert etwas, ihnen soll etwas beigebracht werden. Lernen ist aber aktiv. Man stelle sich eine Schule vor, in dem die Schüler selbst entdecken können, was ihre Fragen sind. Macht es nicht einen Unterschied, ob man eine Antwort auf eine Frage bekommt, die man selbst hatte oder ob sie einfach ohne Nachfrage kommt? In welcher Situation können wir uns eine Antwort besser merken? Die heutige Schule gibt aber »unsere« Fragen vor und gleich die Antworten mit dazu. Sie nimmt sich keine Zeit, dass die Schüler ihre Fragen selbst finden und Antworten suchen. Deswegen interessiert es die Schüler nicht und sie werden sich die Antworten nur durch den Intellekt merken können. Aber begreifen, ergründen und verstehen werden sie sie kaum.

Kinder kommen von sich aus auf die Erwachsenen zu und fragen, wenn sie etwas nicht verstehen. Bei den Eltern oder im Kindergarten funktioniert das noch, aber warum nicht mehr in der Schule? Weil die Schule ein Ziel hat und das sind die Abschlüsse mit den Prüfungen. Sie unterbinden ein freies Lernen, das auf Eigeninitiative beruht.

Lernen ist ein natürlicher Prozess, der, wie wir alle sind, bei jedem anders und zu einem anderen Zeitpunkt geschieht. Warum überlässt man in der Oberstufe die Schule nicht den Schülern und organisiert nur das Notwendigste darum herum? Warum schafft man keine Lernfelder, in denen sie voneinander lernen, in denen sie gemeinsam Projekte entwerfen, in die sich jeder einbringen kann – und dabei auch noch etwas lernt? Warum fragt man die Schüler nicht, was sie wollen? Warum beschäftigt man Jugendliche in der Zeit, in der sie eigentlich herausfinden sollten, was sie antreibt und glücklich macht, was sie der Welt geben möchten, mit Prüfungen und mit fremdgesteuertem Wissen? Hier spielen vor allem die Eltern eine problematische Rolle. Sie wollen nur das Beste für ihre Kinder. Doch mit unserem Schulsystem schaffen wir abgegrenzte Gesellschaftsschichten und Bildungsprivilegien, die durch die Prüfungen immer wieder neu hervorgebracht werden. Dadurch, dass man seine »Zulassung« am Ende der Schulzeit und nicht am Anfang des Studiums oder der Ausbildung erhält, geraten jährlich Millionen von Kindern unter Prüfungsdruck. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder die besten Chancen haben und spielen mit. Würde man die Hochschulen, Universitäten und Ausbildungsstätten über die Zulassungen entscheiden lassen, könnte man den Prüfungsdruck aus den Schulen nehmen. Es würde keine schulische Elite entstehen, die als einzige alle Möglichkeiten hat, alle »Chancen« wahrzunehmen.

Der Sinn der Schule wäre: Jeden Einzelnen in seinen individuellen Zielen zu fördern und ihm, das für ihn Wichtigste mit auf den Weg zu geben. Man würde Zeit bekommen, um herauszufinden, was man selbst gut und gerne macht. Die Lehrer wären dann dafür da, den Schülern beim Erreichen ihrer eigenen Ziele zu unterstützen. Deshalb fordern wir jeden auf, seine Bildung selbst in die Hand zu nehmen.

Aufruf zum Bildungsgang – 11.11.2017

Unser »Bildungsgang« soll beim Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Stuttgart vorbeiführen, wo er dann auf dem Schlossplatz in einer Kundgebung mündet. Dort sollen bereits existierende Alternativen und Projekte vorgestellt werden sowie namhafte Persönlichkeiten und Jugendliche ihre Ideen von einer anderen Bildungsweise verkünden. Anschließend zieht der Zug zu einer Abendveranstaltung, auf der eine von Jugendlichen ausgearbeitete Vision aufzeigt, was Schüler wollen und was eine moderne Schule mit ansprechender Oberstufe des 21. Jahrhunderts bieten sollte. Jeder ist eingeladen, das Buch, welches ihn am meisten lehrte, mitzubringen und darüber in Austausch zu kommen sowie auf einer Schriftrolle festzuhalten, was seiner Meinung nach, im Bildungssystem geändert werden müsste. Diese Schriftrollen wollen wir sammeln und den Wünschen durch eine Petition politischen Ausdruck verleihen.

Der »Bildungsgang« wird von Jugendlichen umgesetzt und wir suchen nach Unterstützern, die mit ihrem Namen hinter der Aktion stehen, uns finanziell unterstützen oder ihre Kanäle für die Verbreitung unseres Anliegens öffnen. Unser Ziel ist eine Debatte über dieses wichtige Thema in Gang zu setzen.

Zum Autor: Simon Marian Hoffmann ist ehemaliger Waldorfschüler und im Vorstand »Demokratische Stimme der Jugend e.V.« tätig.

www.demokratische-stimme-der-jugend.de