Vorbild anthroposophische Medizin

Johannes Kiersch

Presseverlautbarungen zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners haben in den letzten Wochen einen Stimmungs­umschwung erkennen lassen. Als Lebensrefomer, als Künstler, sogar als Religionsstifter scheint der Begründer der Anthroposophie neuerdings bis zu einem gewissen Grade anerkannt zu werden. Nur in einem nicht: Sein Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit seiner Lehre wird nach wie vor einhellig zurückgewiesen. So ist kürzlich die Professur für biologisch-dynamische Landwirtschaft an der Universität Kassel-Witzenhausen wieder abgeschafft worden. Bewährte waldorfpädagogische Lehrerbildungsstätten müssen sich aufwendigen Akkreditierungsverfahren unterziehen und setzen sich dabei dem Verdacht aus, ihren Studiengängen eine »vorwissenschaftliche Erziehungslehre« statt solider Erziehungswissenschaft zugrunde zu legen. Mit naiver Selbstverständlichkeit wird dabei von entscheidungsbefugten Behörden und deren Beratern der reduktionistische Wissenschaftsbegriff angewandt, der bis heute den Mainstream der wissenschaftlichen Forschung beherrscht und den gesamten akademischen Ausbildungsbetrieb durchdringt. Freunde der Waldorfpädagogik, denen dieser Zustand Sorgen macht, werden deshalb mit Interesse zur Kenntnis nehmen, wie zur Zeit ähnlichen Problemen in einem benachbarten Arbeitsfeld begegnet wird: in der anthroposophisch orientierten Medizin.

Hier ist in den beiden vergangenen Jahrzehnten beachtliche Forschungsarbeit geleistet worden, im praktisch-empirischen Bereich ebenso wie in der wissenschaftstheoretischen Klärung und Sicherung anthroposophisch orientierter Positionen. Peter Heusser, Inhaber des Gerhard-Kienle-Lehrstuhls an der Universität Witten/Herdecke, hat soeben eine beeindruckende Zwischenbilanz all dieser Bemühungen vorgelegt. Wie er dabei vorgeht, ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Durchgehend polemisiert er nicht gegen die etablierte, naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin. Er anerkennt deren bedeutende Erfolge in Forschung und Praxis und gesteht gerne zu, dass die gegenwärtig im Aufwind befindliche Alternativmedizin davon lernen kann. Damit verdeutlicht er zugleich, dass anthroposophische »Geistesforschung« die empirische Forschung nicht ersetzen, sondern anregen und erweitern soll. Auch der anthroposophisch orientierte Arzt braucht die Schulmedizin. Nur darf er sich von deren begrenzter, reduktionistischer Perspektive nicht einschränken lassen.

Was die von Steiner begründete anthroposophische Medizin neu hinzubringt, fundiert Heusser mit überaus materialreich abgesicherten philosophischen und wissenschaftstheore­tischen Argumenten. Dabei greift er auf die aristotelische Tradition und die vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart reichende philosophische Auseinandersetzung über den Wirklichkeitsstatus der Allgemeinbegriffe (Universalienstreit) zurück. Steiners Anthropologie als Teil einer »Philosophie über den Menschen« erweist sich dabei als ein neuer Schritt in der Entwicklung eines »objektiven Idealismus«, wie er nicht nur im Mittelalter und in der Zeit der deutschen Klassik, sondern auch von neueren Autoren wie Nicolai Hartmann, Alfred North Whitehead, Werner Heisenberg, Dieter Wandschneider und Vittorio Hösle vertreten worden ist.

Hilfreich ist für Heusser dabei besonders der Begriff der Emergenz, der es erlaubt, die verbreitete Auffassung zu widerlegen, dass nicht nur die Welt der festen Dinge, sondern auch alle Phänomene des Lebendigen, des Seelischen und des Geistigen aus den Wirkungen kleinster Teilchen zu erklären seien.

An breit ausgeführten Beispielen aus der naturwissenschaftlichen Forschung zeigt Heusser, wie auf jeder Ebene des Seins neue Wirkungsprinzipien eingreifen, die sich der Prinzipien der untergeordneten Ebene bedienen, also für ihr Erscheinen in der sinnlich fassbaren Welt auf diese niederen Prinzipien angewiesen sind, aber nicht von ihnen determiniert werden – ein Gedanke, der besonders in der Naturphilosophie Goethes immer wieder hervortritt. Steiners Lehre von den »Wesensgliedern« des Menschen, die ja auch für die Waldorfpädagogik von grundlegender Bedeutung ist, wird dadurch umsichtig in eine gewichtige philo­sophische Tradition eingebettet und an die neueste wissenschafts­theoretische Diskussion angeschlossen.

Das Buch schließt mit einem Überblick über den Stand der Forschung, die im Bereich der anthroposophisch erweiterten Anthropologie seit Steiner erhebliche Fortschritte gemacht, aber auch im experimentellen und klinisch-wissenschaft­lichen Bereich beeindruckende Ergebnisse erzielt hat. Heusser berichtet über die Arbeiten des Erlanger Anatomen Johannes Rohen und seines Kreises zur funktionellen Dreigliederung; über zahlreiche Arbeiten zur Rhythmologie und Chronobiologie und ihre Anwendung in der therapeutischen Praxis; über Beiträge zu einer »individuumsbezogenen« Physiologie, Psychologie und Medizin; über die für eine überfällige Revision der Sinnesphysiologie im Sinne Steiners grundlegenden Forschungen von Herbert Hensel; über erste vorzeigbare Erfolge neuerer Bemühungen, die Wirksamkeit anthroposophischer Heilmittel und Therapien nachzuweisen – besonders bei der Misteltherapie von Krebskrankheiten. Im Ganzen bietet er ein imponierendes Panorama von handfesten Ergebnissen, von denen viele den Fachleuten ebenso wie dem medizinischen Laien wenig bekannt sein dürften.

Im gegenwärtigen Kampf um die Anerkennung der »Wissen­schaftlichkeit« anthroposophischer Forschungs­metho­den kann die Medizin als Leitwissenschaft für anthro-­posophisch orientierte Aktivitäten auf allen anderen Lebens­gebieten gelten. Das zeigt die argumentativ überzeugende und imponierend materialreiche Darstellung Heussers. Wer heute über die Wissenschaftlichkeit der Waldorf­pädagogik nachdenkt, wird das Buch mit großem Gewinn lesen. 

Peter Heusser: Anthroposophische Medizin und Wissenschaft. Beiträge zu einer integrativen medizinischen Anthropologie. Stuttgart 2011