Waldorf-Berufskolleg, wissenschaftlich aufgearbeitet

Hanns-Fred Rathenow

Mit dem Werk über das Waldorf-Berufskolleg legen die Herausgeber Peter Schneider und Inga Enderle einen Band vor, der von seiner Thematik her auf eine Jahrzehnte währende erziehungswissenschaftliche Entwicklungstradition zurückblicken kann. Sie begann in den 1960/70er-Jahren an der Hibernia Schule in Herne und ist mit den Namen Georg Rist, Klaus J. Fintelmann und schließlich Peter Schneider verbunden. Friedrich Edding, einer der Großen der Nachkriegspädagogik und langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, geißelte 1985 die klassische Tradition der Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung in Deutschland: »Die real existierenden Monokulturen allgemeiner oder beruflicher Bildung haben schwere Nachteile.« Mit seinem Leitsatz »Arbeit bildet« versuchte er ein Gegengewicht zur Überbetonung allgemeiner (vor allem gymnasial geprägter) Bildung zu schaffen. Edding griff damit eine Forderung Rudolf Steiners nach der »praktisch-gymnasialen Einheitsschule« auch für die Sekundarstufe II auf. Sie realisiert sich nun nach mehr als 25jährigen Erfahrungen im Waldorf-Berufskolleg an einer Reihe von nordrhein-westfälischen Waldorfschulen.

Die vorliegende Publikation greift den Ursprungsimpuls der Waldorfpädagogik auf und beschreibt ausführlich Entwicklung und Ergebnisse des Versuchs, der Waldorf-Oberstufe eine neue Gestalt zu geben. Steiner warnte zu Beginn der 1920er-Jahre vor der Bourgeoisie-Schule und forderte in seinem volkspädagogischen Ansatz als »didaktisches Zentrum der Oberstufe eine Lebenskunde und Berufsbildung ...«, wie Peter Schneider in dem zentralen Kapitel des Buches über den »Kulturimpuls der Arbeit« schreibt, »durch die der Schüler handelnd-reflektierend in die Aktualität der modernen Gesellschaft und Arbeitswelt eingeführt wird«.

Der langjährigen Arbeit Peter Schneiders und seines Teams ist es zu verdanken, dass dieser ursprüngliche Impuls der Waldorfpädagogik in dem hier dokumentierten Modellprojekt eines Waldorf-Berufskollegs endlich realisiert wurde. Das Buch stellt das aktuelle Modellvorhaben Waldorf-Berufskolleg mit Doppelqualifikation (allgemeine Fachhochschulreife und anrechenbare Berufsgrundbildung) anhand der Kollegs in Schloss Hamborn und Bielefeld exemplarisch dar.

Die drei Säulen der Waldorfpädagogik, das kognitive, künstlerische und praktisch-berufliche Lernen, finden sich auch im Waldorf-Berufskolleg. Fachbezogenes und berufsübergreifendes Lernen im Lernort Schule/Klassenzimmer, künstlerische Aktivitäten (Eurythmie, Klassenspiel, Musik) im Lernort Studio und berufliches Lernen (Lernort Betrieb) in den Fachrichtungen Technik, Wirtschaft und Verwaltung, Sozial- und Gesundheitswesen, Ernährung und Hauswirtschaft, Design und Gestaltung sowie Agrarwirtschaft. Lernen an definierten Lernorten ist das eine, das andere Element des Kollegs ist Arbeit, »tätig sein für die Bedürfnisse anderer«, mit Steiners sozialem Hauptgesetz im Hintergrund.

Die Veröffentlichung ist in neun sich ergänzende Beiträge gegliedert. Sie beginnt mit den Erfahrungsberichten aus den Kollegs in Schloss Hamborn und Bielefeld, der betrieblichen Praxis und der Praxisbetreuung in Schloss Hamborn, beschreibt den schulrechtlichen, bildungspolitischen und waldorfspezifischen Kontext der Waldorf-Berufskollegs und arbeitet die besonderen Möglichkeiten des Portfolio-Abschlusses im Oberstufenkonzept des Waldorf-Berufskollegs heraus. Neben den eher deskriptiv-praxisbezogenen Beiträgen, die das Projekt lebendig vorstellbar werden lassen, sind es die theoretischen Anteile, die den Band zu einem Handbuch werden lassen, das sicherlich in die Bibliotheken derjenigen Waldorfschulen gehört, die sich um eine zeitgemäße Bildungsarbeit bemühen. Hilfreich ist das Handbuch für alle Schulen, die sich mit dem Gedanken tragen, Elemente einer berufs- und praxisbezogenen Arbeit konkret einzuführen. Im eher theoretisch-diskursiv angelegten zweiten Teil der Veröffentlichung diskutiert zunächst Horst Philipp Bauer die Frage, was Lebens-und Berufstüchtigkeit heute bedeuten angesichts vielfältig krankmachender Tendenzen. Auf der Höhe der Zeit rezipiert Wilfried Gabriel kritisch die Debatte um die seit einigen Jahren geführte, scheinbar alternativlose Kompetenzorientierung in der mainstream-Schulpädagogik und weist praktikable Möglichkeiten für die spezifische Praxis an Waldorfschulen auf. Schließlich erfährt an dieser Stelle der Hauptimpuls des Bandes eine fruchtbare Ergänzung durch das »LebensLernen«, einen Ansatz, den der Schweizer Pädagoge und Erziehungswissenschaftler Thomas Stöckli seit den 1990er Jahren an der Mittelschule Regio Jurasüdfuss in Solothurn/Schweiz entwickelt. »LebensLernen« überbrückt laut Stöckli die Jahrtausende alte traditionelle pädagogische Polarität zwischen Schule und Leben. Damit greift er pädagogische Prinzipien der Hibernia-Schule auf, die seit ihrer Gründung das Ziel verfolgte, »nicht für die Arbeit auszubilden, sondern durch die Arbeit zu bilden« (Lübbers 1972).

Dieses wichtige Buch greift frühere reformpädagogische Forderungen auf, die die Fragmentierung des Wissens, seine Partikularisierung in Fächern und die Trennung der Schule vom »wirklichen Leben« kritisierten. Ein ganzheitlicher pädagogischer Ansatz mit »Hand und Fuß«, die Verschmelzung theoretischen und künstlerischen Lernens zu einer neuen Kultur der Arbeit und der Entwicklung der Persönlichkeit bestimmen die Attraktivität des hier angelegten Menschenbilds.

Peter Schneider/Inga Enderle (Hrsg.)(2012): Das Waldorf-Berufskolleg. Entwicklung und Ergebnisse einer neuen Oberstufengestaltung der Waldorfschule. Frankfurt/M. u.a.: Verlag Peter Lang, 320 S., 45 s/w Abb., 36 farb. Abb., 4 Tab. SFR 57.00; € 49.95; € 51.40 (Österreich)