Dreikönig mit Oberstufenschülern

Walter Schafarschik

»Ihr habt nun unser Spiel gesehen,
Herodes hier, die Weisen dort.
Der Engel hat in dem Geschehen
das erste und das letzte Wort.

Was er den Königen verkündet:
O bleibet von Herodes fern!
Das gilt auch euch. Drum sucht und findet
im Leben euren eignen Stern!

Und ist uns etwas nicht gelungen,
zieht das Bemühen in Betracht!
Zum Schluss wird noch einmal gesungen.
Euch allen: Eine gute Nacht!«

Nach diesen Worten des Engels zieht die Kumpanei des Oberuferer Dreikönigsspiels unter Gesang aus dem Saal – und der Beifall will nicht enden. Ist da etwas Besonderes geschehen? Dieses Spiel wurde von Schülern der 10. bis 12. Klassen aufgeführt, offenbar so überzeugend, dass die Zuschauer das unüberhörbar zum Ausdruck bringen.

Doch vielleicht etwas zur Vorgeschichte dieser Aufführung. Wie an vielen Waldorfschulen in Deutschland war das Oberuferer Dreikönigsspiel auch an der Engelberger Schule seit Jahren nicht mehr aufgeführt worden. Die Gründe, so wie anderswo: Die kollegialen Kraftressourcen waren durch die beiden anderen Oberuferer Spiele – das Paradeis- und das Christgeburtsspiel – aufgebraucht. Zwei pensionierte Kollegen nahmen sich der Sache an, zusammen mit Schülerinnen der Klassen 10 bis 12, denn außer den Rollen des Joseph, des Herodes und des Kriegsknechts waren alle Rollen mit Mädchen besetzt. Die Überzeugungskraft der Aufführung scheint auch damit etwas zu tun gehabt zu haben. Textgrundlage war eine neuhochdeutsche Übertragung, die ein Kollege, der tief mit den Spielen vertraut war, vor Jahren angefertigt hat. Er hat dabei einen Ton getroffen, der leicht archaisierend ist und nichts von der Substanz preisgibt. Der Prolog des Engels erscheint in einer ganz neuen Fassung, die besonders auf die Aktualität des Spiels hinweist:

Horcht auf, ihr Menschen hier im Kreis,
die ihr zu unserm Spiel gekommen:
Dies Spiel zu Gottes Ehr’ und Preis
ist nicht die Sache nur der Frommen.

Es geht die ganze Menschheit an,
ist nicht erdichtet, nicht erfunden,
ob arm ob reich, ob Frau ob Mann,
ein jeder ist damit verbunden.
Es bricht herein der Engel Wort,
um uns im Finstern Licht zu geben,
bestimmt für jeden Erdenort,
wo Menschen miteinander leben.

Die Weisen aus dem Morgenland,
Sie wirken auch in jedem Toren,
Sie führen sicher deine Hand,
ganz gleich, wo immer du geboren.
Doch auch Herodes ist zur Stell’,
wo wir dem Bösen unterliegen,
im Namen von Satanael
einander hindern und bekriegen.

Drum, wer zum Kinde finden will,
das in der Weihenacht geboren,
schau fleißig zu, und schweige still,
und öffne Herz und Aug’ und Ohren.

Interessant war, wie sehr die Schüler in diese neuhochdeutsche Fassung eintauchen konnten, und so kreativ wurden, dass sie für die eine oder andere Wendung Alternativen vorschlugen. Da gab es bisweilen lange Gespräche, und das wirkte sich dann auch positiv auf die innerliche Verbindung mit den Rollen und ihre Gestaltung aus. In Gesprächen mit Zuschauern nach der Aufführung fielen Worte wie: Zauber, Reinheit, Klarheit, der Duft von etwas ganz Neuem, starke Impulse zum Nachdenken. Diese Eindrücke scheinen darauf hinzuweisen, dass Schüler dieser Altersstufen, vor allem Mädchen, Fähigkeiten entfalten, über die erwachsene Darsteller offenbar nicht mehr verfügen. Das ist menschenkundlich  aufschlussreich und sollte ein Anstoß sein, diese Möglichkeit zu nutzen, um die Aktualität des Spiels überzeugend zu vermitteln. Gegenwärtige Schülergenerationen bringen solche Fähigkeiten mit und suchen nach Gelegenheiten sie entfalten zu können. Das sollten wir mehr und mehr im Bewusstsein haben.

Erlebt man ein solches Spiel der Schüler, so kann man den Eindruck gewinnen: Sie ahnen, dass das dargestellte Geschehen etwas mit ihrer Situation zu tun haben könnte, mit dem Angriff auf ihr »ewiges Kindsein«, das Idealismus und Kreativität bedeutet und das in dem Gerangel um bloße Kompetenzen und Aufstiegschancen unterzugehen droht. Alle totalitären Regime greifen zuerst in missbräuchlicher Weise auf diese Kindheits- und Jugendkräfte zu, um das in ihnen liegende Freiheitspotenzial im Keim zu ersticken. Wir haben in Deutschland reiche Erfahrung damit: Es gab Pimpfe und Hitlerjugend und anschließend Junge Pioniere und Freie Deutsche Jugend.

Aber auch die unterschiedlichsten Interessengruppen der westlichen Demokratien dürfen weitgehend ungestört und immer raffinierter versuchen, aus Kindern und Jugendlichen frühzeitig Medien-und Konsumabhängige zu machen – ihnen ihr »ewiges Kindsein«, wo es geht, zu beschneiden. Michael Ende fasst das eindrucksvoll in einem Gedicht zusammen:

Der Kindermord

In jedem Menschen lebt ein Kind,
das kommt aus andern Welten;
Die Herrscher, die von Diesseits sind,
die lassen es nicht gelten.

Sie fürchten sich vor seiner Macht,
wenn es erst groß geworden.
Sie ziehn mit Spießen aus bei Nacht
und wollen es ermorden.

Und fragt das Kind nach seinem Reich,
aus dem es hergekommen,
und sehnt es sich, dann wird es gleich
in Mörderhand genommen.

Und in Herodes’ Unterricht
lernt es in Herzensnöten:
Die Himmelsheimat gibt es nicht!
So kann man es leicht töten.

Ach, liebe Kinder, glaubt daran,
wenn euch der Tod so nah ist:
Der Kindermord kommt immer dann,
wenn der Erlöser nah ist.

Noch eine andere wichtige Erfahrung haben wir gemacht: Aufführungen der Oberuferer Weihnachtsspiele durch Lehrer vor Schülern sind heute nicht einfach, bisweilen durchaus risikoreich. Davon war in dieser Aufführung bei unseren Schülern nichts zu spüren. Sie schienen etwas von der Botschaft gehört zu haben, waren überzeugt von diesem Spiel und ihren Darstellern; die Atmosphäre im Saal war beeindruckend. Das Oberuferer Dreikönigsspiel mit Schülern aufführen – wäre das nicht einen Versuch wert? Es ist ein Gewinn für die ganze Schulgemeinschaft.

»Als ich gefragt wurde, ob ich die Rolle der Maria übernehmen wolle, war ich auf der einen Seite stolz, dass man mir solch eine zentrale Rolle zutraute, aber auf der anderen Seite hatte ich Respekt. Auch wenn Maria die meiste Zeit nur auf einem Hocker sitzt und ein paar Takte singt, ist doch das ganze Stück um sie herum aufgebaut. Sie bildet nicht nur das Zentrum der Bühne, sondern auch das des Spiels. Ich sollte also eine Gestalt darstellen, die ganz in sich gekehrt scheint, fast wie in einer anderen Sphäre, und die doch immer präsent ist.

Geduldig und konzentriert musste da die aufrechte Haltung und die Andeutung des in den Mantel gehüllten Kindes gewahrt werden. Jede Nachlässigkeit in der Haltung hätte gestört, einen gewissen Glanz von dieser Haltung ausgehen zu lassen. Auch die Reinheit der gesungenen Worte wäre verloren gegangen, wenn man bei den Liedern nicht den exakten Einsatz gefunden hätte. Umso schöner war es zu wissen, dass ich in dieser Rolle versuchen konnte, etwas von Reinheit und Liebe darzustellen. Vielleicht wäre die Welt ja besser, wenn jeder in sich seine eigene Maria fände.«

Leonie Kuhnle